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Schon 131 Kernkraftwerke still gelegt

geschrieben von  Martin Arnold

Im März 2016 organisierte die Schweizerische Energie-Stiftung in Zürich einen Kongress zum Atomausstieg. Eine Podiumsdiskussion offenbarte den tiefen Graben zwischen jenen, die an eine Zukunft der Atomenergie glauben und jenen, die sie schon längst abgehakt haben.

Mycle Schneider, Verfasser des jährlichen Statusberichtes zur Atomenergie, Beat Bechtold, Geschäftsführer des Nuklearforums Schweiz, Horst Michael Prasser Professor für Nuklearenergie-Systeme an der ETH Zürich und der ehemalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin schenkten sich schon bei der Deutungshoheit um den Begriff Naivität der Andersdenkenden nichts. Kann Kernenergie weiter genutzt werden? Auch Horst Michael Prasser wollte nicht den Weiterbetrieb alter Kernkraftwerke verteidigen. Er setzte sich aber entschieden für Neubauten ein, die er auch für sicherer hält. Dies provozierte die grundsätzliche Frage, ob Kernkraftwerke rentabel sind. Während seinen Recherchen ist Mycle Schneider auf ein neues Phänomen gestossen. Letztes Jahr gingen in den USA sieben Reaktoren nicht mehr ans Netz – dies obwohl alle Nachrüstungen getätigt und viel Geld investiert worden war. „Ganz einfach weil sie nicht mehr konkurrenzfähig sind.“ Dieselbe Entwicklung hat Schneider nun auch in Schweden gesehen, wo vier Reaktoren keinen Strom mehr produzieren, obwohl sie dies könnten.“ Beat Bechtold vom Nuklearforum wollte sich allerdings nicht geschlagen geben. „Präsident Obama glaubt, die Kernenergie könnte einen Beitrag gegen den Klimawandel leisten und es sind viele Bauprojekte in der Pipeline.“ Dem entgegnete Mycle Schneider: „Die Leute der Atomindustrie sind Meister der Ankündigungen. Die meisten Projekte werden nie realisiert.“


Umstritten war zudem die Frage, wie viele Kernkraftwerke zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt Energie liefern. Viele Atomkraftwerke tauchen in den Statistiken als betriebsbereit auf, tatsächlich liefern sie aber keinen Strom. Jedenfalls wurden weltweit bereits 131 Kraftwerke still gelegt – ob aus Gründen der Sicherheit, der Rentabilität oder anderen Ursachen. Dabei ist der Anteil von Kernkraftwerken, die sich durch einen Unfall, einen Schaden oder sonstiger gefährlicher Entwicklungen quasi selber schlossen beachtlich hoch gegenüber jenen, die von Aufsichtsbehörden ohne Not still gelegt wurden. Mycle Schneider: „Es gibt viel mehr kleinere Unfälle, die nicht im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit sind, als man denkt.“ Jetzt, wo Stilllegungen auch in der Schweiz konkret werden, weist Mycle Schneider auf Variablen hin, deren Zusammenspiel wenigen bewusst ist. Solange nicht klar sei, wann welches Kraftwerkt still gelegt werde, ist auch nicht klar, ob der Fonds für die Endlagerung ausreiche. Wenn Kernkraftwerke aus finanziellen Gründen sogar früher still gelegt werden als geplant, ist weniger Geld für die Endlagerung da. Weil der Endlagerungsbeitrag von der produzierten Energie abhängt.

Sparen die an der Sicherheit?

Den Zustand der Kernenergieindustrie zeichnete Schneider vor der Diskussion in einem Referat düster: Selbst in China seien seit dem Unfall von Fukushima keine neuen Kernenergie-Projekte mehr genehmigt worden. Jene Kraftwerke, die zurzeit noch ans Netz gehen, wurden vorher geplant. Sorgen macht dem Träger des Alternativen Nobelpreises der Zustand der Kraftwerkbetreiber. Schneider, der in Paris wohnt, bekommt den wirtschaftlichen Niedergang des Kraftwerkbetreibers EDF und des Kraftwerkbauers AREVA hautnah mit. Schneider: „Wenn in der Wiederaufbereitungsanlage La Hague, die ja in Frankreich Plutoniumfabrik genannt wird, 500 von 4000 Mitarbeitern entlassen werden, frage ich mich: Haben die vorher Däumchen gedreht, oder wird jetzt womöglich an der Sicherheit gespart?“ Immer wieder, auch aus dem Publikum wurde kritisiert, die Kernenergie gegen erneuerbare Energien auszuspielen. Schliesslich würden beide einen Beitrag gegen die Klimaerwärmung leisten. Diesbezüglich hatte Jürgen Trittin eine dezidierte Meinung. „Wenn ich die Wahl habe, für zehn Cents ein Kilo CO2 einzusparen, oder drei Kilo, dann spare ich natürlich für den gleichen Betrag drei Kilo ein. Die erneuerbaren Energien sind billiger und die Differenz zwischen ihnen und dem Preis für Kernenergie wird schnell grösser.“ Heute schon sei Netzparität möglich. Das heisst, einem Konsument der selber Energie produziert, kommt dies nicht teurer, als wenn er den Strom als Massenprodukt aus der Streckdose bezieht.
Deutschland hat schon Erfahrungen mit der Stilllegung von Kernkraftwerken. Die Schweiz wird sie bald bekommen. Wichtig sei, dass Fachkenntnisse auch in der Rückbauphase erhalten bleiben. Leider wurde Horst Michael Prasser zum Ausbildungsstand von Kernenergiefachleuten nicht befragt.

Weiterlesen:

Irene Aegerter, Physikerin, Schweiz: Die Energiewende ist katastrophal.

Mycle Schneider, Energieberater, Paris, Frankreich: Atomenergie ist nicht mehr konkurrenzfähig."