David Boilley, Nuklearphysiker, Präsident ACRO

"Messen und informieren"

David Boilley, 50, ist Nuklearphysiker an der Universität von Caen und Präsident der NGO ACRO, die seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl in ganz Europa und Japan die Radioaktivität misst.

„Ich stamme aus Besançon, lebte aber im April 1986 in Strassburg. Dort war ich sehr erstaunt, als nach dem Unfall von Tschernobyl in Deutschland vor dem Verzehr von Gemüse, Fischen oder Pilzen gewarnt wurde. In Frankreich ist man  nie von der Tagesordnung abgewichen. Alles normal, hiess es. Ich wurde hellhörig und als Student der Physik mit Spezialisierung auf Atomtechnologie wusste ich, dass da etwas nicht stimmt. Ich habe mich schon vorher für die ökologischen Belange interessiert, war kein Atomenergie-Gegner, aber ein kritisch eingestellter Zeitgenosse Und ich hörte von glaubhaften Messungen auch in Frankreich, die die deutschen Angaben bestätigten. Sie kamen von ACRO aus der Normandie. Diese NGO wurde nach der Reaktorkatastrophe gegründet und begann überall in Frankreich Messungen durchzuführen. ACRO analysiert die in der Umwelt vorhandene Radioaktivität und ordnet sie zu. Ist sie natürlich, wie Radon, oder stammt sie von Tschernobyl, der Wiederaufbereitung oder Atombombenversuchen. Für die Doktorarbeit ging ich nach Japan, wo ich auch meine heutige Frau kennenlernte. Ab 1991 arbeitete ich an der Universität von Caen in die Normandie, weil hier mit La Hague und Flamanville die Kernenergie eine wichtige Rolle spielt. Ein Jahr später fing auch mein Engagement bei ACRO an. Ich leistete hier meinen Zivildienst. ACRO macht im Prinzip das, was eigentlich Aufgabe der Atomindustrie wäre. Wir informieren die Öffentlichkeit über die Radioaktivität in der Umwelt. Das ist eine dauerhafte Sisyphusarbeit und meist so unspektakulär, dass keine Zeitung eine Zeile darüber schreibt. Wir messen Erde, Wasser, Algen, Schalen, Gemüse, Pilze, kurz alles, was uns Leute schicken, wir selber sammeln und was uns als wichtig erscheint. Die Suche nach Cäsium-137, das auf Verstrahlung durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hinweist, ist eine Säule von ACRO. Eine zweite Säule sind Messungen in der Umgebung von Kernkraftwerken, vor allem bei La Hague. Und neu habe wir auch – dank den guten Kontakten nach Japan – eine Messnetz dort aufgebaut. ACRO finanziert sich durch Mitgliederbeiträge, die Durchführung von Studien und Auftragsanalysen etwa für Greenpeace, aber auch durch Subventionen und Spenden. Wir fordern eine Demokratisierung der Kernenergie. Sie muss von aussen wissenschaftlich kritisch und frei begleitet werden. Das tun wir mit unserem Labor. Wir sind von der Behörde für nukleare Sicherheit anerkannt. Wir lobbyieren für eine verbesserte Sicherheitskultur, für transparente Vorgänge und offene Kommunikation auch im Bereich der Finanzen. Die Probleme um den neuen Reaktor Flamanville sind ein gutes Beispiel dafür. Nur tröpfchenweise wird kommuniziert, welche grossen baulichen Probleme es dort gibt und wie stark die Finanzen aus dem Ruder laufen. Die Basis unserer Arbeit sind aber die 250 freiwilligen Mitarbeiter, die für uns in der Nähe der Kernkraftwerke und der Wiederaufbereitungsanlage regelmässig und in weniger dichten Netzen im ganzen Land und aus ganz Europa Proben nehmen und uns zuschicken. Von diesen 250 Mitarbeitern sind 30 sehr aktiv. Hinzu kommen fünf Festangestellte. Die Analyse der Proben braucht schliesslich Zeit. Es kommt übrigens vor, dass uns Leute im Internet entdecken und etwas zuschicken. So konnten wir bei den Krebsen aus dem Lac de Joux, aber auch im Raclette-Käse aus Turtmanntal in der Schweiz keine Belastung finden. Im Hinblick auf den 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl lancieren wir eine Kampagne, bei der wir in Europa nochmals gezielt und überall messen und nach Cäsium-137 suchen. Wir wollen damit nicht zuletzt auch die Konsumentinnen und Konsumenten ein wenig aufwecken. An bestimmten Orten und Produkten gibt es noch immer eine hohe Radioaktivität. So haben wir in Erde aus den französischen Alpen 68'000 Becquerel gemessen.“
http://www.acro.eu.org



zum Weiterlesen:

ACRO: Ein Kind Tschernobyls