Ludwig E. Feinendegen, Strahlenmediziner, Lindau, Deutschland

«Niedrige Strahlung stimuliert körpereigene Abwehr.»

Ludwig E. Feinendegen ist Strahlenmediziner und seit 1974 Mitglied der Schutzkommission des deutschen Bundesministeriums des Innern. Feinendegen ist Mitunterzeichner eines offenen Briefes (»An Open Letter to Advisory Bodies Regarding Low Dose Radiation Cancer Risk«), in dem 23 Wissenschaftler aus aller Welt die internationalen Behörden dazu aufrufen, eine als unschädlich geltende Schwelle im Strahlenschutz zu bestimmen.

»Ich war damals, 1979, selbst überrascht, als mir ein Doktorand berichtete, er habe festgestellt, dass mit niedrigen Dosen bestrahlte Zellen mit einigen Stunden Verspätung eine Änderung zeigten, die den Stoffwechsel im Erbgut beeinflusste. Dieses unerwartete Verhalten erwies sich bei weiteren Versuchen nicht als negative, sondern als positive Reaktion. Die Zellen schienen in ihrer Widerstandskraft gestärkt. Eigentlich war es uns nur darum gegangen, eine biologische Dosimetrie zu entwickeln, also anhand bestimmter Reaktionen in der Zelle eine Aussage über die Strahlungsdosis machen zu können. Doch jetzt zeichnete sich etwas ab, das die gängige Vorstellung von den Auswirkungen niedriger Strahlung über den Haufen werfen sollte. Die damaligen Ergebnisse sind seither vielfach bestätigt worden. Heute ist das für mich gesichertes, wissenschaftlich fundiertes Wissen: Niedrige Strahlendosen wirken – mit individuellen, genetisch bedingten Unterschieden – wie ein Stimulanzmittel auf die körpereigene Abwehr, wie eine ›Stress-Reaktion‹, und das nicht nur für den Augenblick, sondern über Monate, ja Jahre. Damit wird bei niedrigen Strahlendosen das Risiko, an Krebs zu erkranken, gesenkt und nicht erhöht, wie es die gängige Lehrmeinung besagt, auf der alle Grenzwerte im Strahlenschutz basieren. Dies zeigt sich nun auch in zahlreichen epidemiologischen Untersuchungen an großen Menschengruppen. Die Autoren einer aktuellen Studie aus Indien berichten, dass Menschen in einer Küstenregion, die einer deutlich erhöhten Hintergrundstrahlung ausgesetzt sind, nur in ihrer Jugend ein leicht erhöhtes Risiko von DNA-Schäden haben, danach aber bis ins hohe Alter mit einem geringeren Schadenrisiko und damit voraussichtlich auch Krebsrisiko leben als Menschen in einer Vergleichsregion mit einer viel niedrigeren Hintergrundstrahlung. Das Linear-No-Treshold- Modell, das davon ausgeht, dass es mit null beginnend eine lineare Wechselwirkung zwischen der Strahlendosis und dem Risiko gibt, an Krebs zu erkranken – was bedeutet, dass es keine Grenze zwischen schädlich und unschädlich gibt –, muss deshalb dringend ersetzt werden. Es hat die Menschen nicht vor Strahlenschäden geschützt, die es bei niedrigen Dosen gar nicht gibt, sondern viel mehr Schaden gestiftet: durch Verunsicherung und teure, unnötige Strahlenschutzmaßnahmen. Ich plädiere für die Einberufung einer großen Konferenz, bei der es darum gehen muss, im Strahlenschutz neue Wege zu gehen. Es gibt einerseits den berechtigten Anspruch, vor schädlicher Strahlung geschützt zu werden. Aber es gibt umgekehrt auch den Anspruch, eine Strahlung zuzulassen, die dem Menschen nachweislich nützt, statt ihm zu schaden. Die Sperrzonen in Tschernobyl und Fukushima müssten dann, zumindest teilweise, wahrscheinlich aufgehoben werden.«

zum Weiterlesen:

Atombombenopfer als Referenz für Grenzwerte