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Das Leiden der Liquidatoren

geschrieben von  Urs Fitze (Text und Bild)

Rund 800’000 vorwiegend junge Soldaten wurden in den Jahren 1986 und 1987 am zerstörten Reaktor von Tschernobyl als “Liquidatoren” eingesetzt, um das Ausmass der Katastrophe einzugrenzen. Fast die Hälfte waren Ukrainer. Die Hälfte ist gestorben, die allermeisten sind krank.

Vassili Alexejewitsch Marchinko ist nie mehr nach Tschernobyl zurückgekehrt. Es treibt ihm noch heute die Tränen in die Augen, wenn er beschreibt, wie er am Tag nach der Katastrophe von der Arbeit im AKW nach Hause kam – und eine leere Stadt Prypjat vorfand. Niemand hatte ihn über die Evakuierung der 50 000 Einwohner informiert. Dabei hatte er die ganze Nacht nach der Katastrophe damit gerechnet. »Als ich aus dem Küchenfenster den violetten Feuerschein aus dem zerstörten Re- aktor sah, war mir klar: Das Schlimmste war geschehen. Ein nukleares Feuer, eine Kettenreaktion unter offenem Himmel, kaum mehr zu löschen. Wir mussten weg.« Kein Auge hätten er und seine Frau zugetan, stattdessen die Koffer gepackt. Doch nichts geschah am folgenden Morgen. Alles schien wie immer zu sein. So bestieg Marchinko um halb sieben Uhr den Bus zum Kraftwerk. Er fuhr einen Umweg mit weitem Bogen um den zerstörten Reaktor. Alles schien wie gewohnt. Nur sein Kollege wurde anderweitig eingesetzt. Dann wurden die Telefonleitungen gekappt. Seine Familie sah er erst Wochen später wieder. Sie war bei Verwandten in Donezk untergekommen. Prypjat war binnen Stunden zur Geisterstadt geworden. Die wenigen Zurückgebliebenen wurden aufgefordert, die Regale der Geschäfte zu räumen. Es wurde eine traurige, vom Alkohol vernebelte Nacht.



Der heute 67-Jährige wurde vom Spezialisten für die Reinigung radioaktiver Abwässer im Kraftwerk zum »Liquidator«. 800 000 vorwiegend junge Soldaten wurden damals für die Lösch- und Aufräumarbeiten eingesetzt, darunter knapp 400 000 aus der Ukraine. Sie mussten unter extremsten Bedingungen, als es erst nach zehn Tagen gelungen war, das nukleare Feuer einzudämmen, eine neue Hülle für den zerstörten Reaktor bauen. Der “Sarkopharg” war auf eine Lebensdauer von einem Vierteljahrhundert angelegt worden. Inzwischen wird mit Geldern der EU, der USA und Russlands eine neue Hülle gebaut. Sie soll die Umwelt für weitere 100 Jahre vor der Strahlung schützen. Ob und wie eine Entsorgung oder Endlagerung je möglich sein wird, weiss heute niemand. Die Aufräumarbeit wird auch den kommenden Generationen nicht ausgehen.

Die Ärztin Angelina Nyagu engagiert sich als Präsidentin der »Ärzte für Tschernobyl« seit Jahren für die Liquidatoren. Die eloquente, selbstbewusste 74-Jährige weiss wohl, dass Verzweiflung und Betroffenheit schlechte Ratgeber sind im Wettstreit um die besseren Argumente. Sie verzichtet bewusst auf zweifelhafte Forschungsresultate, von denen es im Umfeld der Atomkraftgegner nur so wimmelt. Sie erzählt keine Krankengeschichten, sondern präsentiert die nüchternen Fakten, basierend auf offiziellen Zahlen: 1997, elf Jahre nach der Katastrophe, waren 352 939 ukrainische Liquidatoren registriert, die in den Jahren 1986 und 1987 Einsätze geleistet hatten. Von ihnen lebten im Jahr 2011 noch 166 087. Die Zahl der als invalid gemeldeten Personen, die entweder evakuiert oder als Liquidatoren eingesetzt worden waren, erhöhte sich im selben Zeitraum von 59 582 auf 112 729. 94,2 Prozent der Liquidatoren und 89,8 Prozent der aus der Sperrzone Evakuierten und knapp 80 Prozent von deren Kindern sind krank. Zu den diagnostizierten Krankheiten zählen eine allgemeine Schwächung des Immunsystems (Tschernobyl-Aids), Erkran- kungen der Atemwege, des Harn- und Geschlechtsapparates, der Knochen und des Muskelapparates, des zentralen Nervensystems, der Augen (grauer Star), des Blutes, Missbildungen, Schilddrüsen- krebs und Leukämie. Jeder dritte Liquidator leidet an einer psychischen Krankheit – in der ukrainischen Gesamtbevölkerung ist es nur jede sechste Person. Kinder von verstrahlten Eltern zeigen eine deutlich reduzierte Intelligenzleistung. »Wir werden wahrscheinlich das ganze Ausmaß der Katastrophe gar nie ermessen können. Alleine die Kosten summieren sich auf 500 Milliarden Dollar«, bilanziert Nyagu. Aber eines sei klar: »Tschernobyl ist noch lange nicht vorbei. Es geht nicht nur um die Gesundheit von Hunderttausenden betroffenen Menschen, es geht auch um deren mangelnde wirtschaftliche Möglichkeiten, deren sozialen und psychischen Stress und deren Würde.« Ob sie damit jene, die das Sagen haben, überzeugen wird? Nyagu lächelt nur müde. Ihr Kollege Vladimir Shyriayev, der als Vizepräsident amtiert, erlitt als 31-Jähriger, kurz nach seinem Einsatz als Notarzt in der Sperrzone, zwei Schlaganfälle. Er hatte in einer improvisierten Krankensta tion überprüfen müssen, ob die Liquidatoren ihre Schutzausrüs tung auch korrekt trugen. »Ich war zuvor vollkommen gesund gewesen. Niemand kann behaupten, das hätte nichts mit der Strahlung zu tun.« Shyriayev zieht den Berichterstatter zur Seite, sein Ton wird scharf, seine Verbitterung greifbar. »Sie glauben uns nicht. Niemand glaubt uns«, spielt er auf eine Bemerkung des Reporters an, die darauf abgezielt hatte, dass Zahlen von allen Seiten manipuliert oder einseitig ausgelegt würden. Dann erzählt er von seinem Leben, von seinem Kampf gegen die Strahlenkrankheit und für die Wahrheit, den er verbissen bis heute führt. Er sei ein einsamer Mensch geworden.

Die Liquidatoren waren Helden wider Willen gewesen, die mit ihrem Einsatz noch viel Schlimmeres verhinderten. Wäre es nicht gelungen, die anhaltenden nuklearen Kettenreaktionen im zerstören Reaktor zu stoppen, es wäre noch über Jahre zur Freisetzung von Radionukleiden gekommen, die der Wind in alle Welt verteilt hätte. So wurden Länder wie die Schweiz vom Fallout nur gestreift. Marchinko ist als »homo sovieticus« bis heute stolz auf seine Leistungen im AKW Tschernobyl, in dem auch jährlich 1,2 Tonnen Plutonium zum Bau von Atombomben produziert wurden. An der Wand hängen Fotos aus der Zeit: Ein kräftiger junger Mann posiert mit Kollegen vor der Großbaustelle des Kraftwerks und vor den Plattenbauten Prypjats. Aus der Schublade holt er eine Aufnahme, die damals streng verboten war: im Schutzanzug vor dem zerstörten Block IV. Mar- chinko sagt: »Damals gab es wenigstens noch einen starken Staat, die Sowjetunion, die in der Lage war, auch eine solche Krise zu meistern. Für die heutige Ukraine wäre der Super-GAU wie der Un- tergang von Pompeji im alten Rom.«

Kämpfen gegen das Vergessen

Da mag etwas gar viel Sowjet-Nostalgie mitschwingen. Aber im Kern hat der Mann nicht unrecht. Der junge Staat Ukraine erging sich nach der über Nacht gekommenen Unabhängigkeit 1991 in einem eigens erlassenen Gesetz in Versprechungen an die Liquidatoren und Evakuierten, die er nicht einmal ansatzweise einhalten konnte. So wartet Nikolai Isayev, Präsident der Tschernobyl-Partei, des politischen Armes der Überlebenden, bis heute auf das versprochene Gratis-Auto. Das könne er ohne Weiteres verschmerzen, »aber die Streichung der freien medizinischen Leistungen trifft uns ins Mark, für manche kommt es einem Todesurteil gleich. Uns bleibt wie vielen Kriegsveteranen nur noch die freie Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel.« Gerade noch ein Zwanzigstel der tatsächlichen Bedürfnisse der rund 120 000 »Tschernobyl-Invaliden« werde durch staatliche Leistungen gedeckt. Mit den Invalidenrenten liessen sich in vielen Fällen kaum mehr als die existenziellen Kosten fürs Leben decken, »wenn überhaupt«. Auch Isayev war überzeugter Sowjetbürger. Der 59-Jährige zählte zu einer schmalen Elite, er genoss Privilegien, verdiente so viel »wie ein Manager im Westen heute«, und er war überzeugt von der Sache. Der GAU habe alles verändert, und er habe den Untergang der Sowjetunion eingeleitet. »Heute kämpfe ich eigentlich nur noch gegen das Vergessen.«

Politische Zyniker würden einwenden, die Tschernobyl-Betroffenen würden damit gleich behandelt wie die übrige Bevölkerung, die ihre Arztrechnungen auch selber berappen muss – eine Normalisierung auf tiefstem Niveau. Eine unrühmliche Rolle spielen dabei auch internationale Organisationen wie die Interna- tionale Atomenergie-Organisation IAEO oder das UNO-Strahlen- Expertenkomitee UNSCEAR, die in ihren Berichten mit fast schon boshaft anmutender Hartnäckigkeit behaupten, die gesundheitlichen Probleme der Menschen aus Tschernobyl hätten andere Ursachen – Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Arbeitslosigkeit. Danach sind als direkte Folge des Super-GAUs 50 Menschen gestorben, bis zu rund 5000 weitere würden an den Folgen der Verstrahlung sterben. Damit spielen sie jenen in die Hände, die in einem faktisch bankrotten Staat nach Gründen suchen, um dessen Leistungen zu streichen.

Vassili Alexejewitsch Marchinko deutet auf den Stapel mit Medikamentenschachteln. »Die Pillen halten mich noch am Leben.« 28 Röntgen hat das Dosimeter damals für ihn ausgewiesen. Das ent- spricht etwa dem Vierfachen der Dosis, die ein Mensch mit der natürlichen Hintergrundstrahlung in seinem ganzen Leben aufnimmt. 20 Krankheiten seien an ihm schon diagnostiziert worden. Es ist auch in seinem Leben still geworden. Seinen Geburtstag feiert er alleine. Die erwachsenen Söhne leben weit entfernt, von seiner Frau hat er seit der Scheidung nichts mehr gehört. Und die ehemaligen Kolleginnen und Kollegen sterben weg, einer nach der anderen. Die friedliche Nutzung der Atomenergie zieht der ehemalige Spezialist für die Reinigung radioaktiver Abwässer nicht in Zweifel. »Wir brauchen das Atom, trotz aller Risiken.«

zum Weiterlesen:

Viktor Pinigen, Landvermesser und Liquidator, Weissrussland: "Diese Stille. Es war wie in einem Vakuum."

Liawon Grischuk, Maler und Liquidator, Weissrussland: "Alle sind tot."