Die Basse-Normandie ist eine französische Randregion. Niemand würde, von Cherbourg her kommend, an der windumtosten nördlichen Küste der Halbinsel Cotentin einen solch monumentalen Industriekomplex von zwei Kilometer Länge und einem Kilometer Breite erwarten. Die Gegend ist von Hecken, Kühen, Apfelbäumen und idyllischen Dörfern geprägt: Eine abwechslungsreiche Landschaft mit Charakter, ganz wie der aromatische Calvados, der hier häufig gebrannt wird. Produziert werden aber auch andere Landwirtschaftsprodukte wie Butter und Käse. Nur steht dort mit keinem Wort La Hague als Markennamen dabei. Wer kauft schon Butter mit dem Namen einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage? Contentin gehört zum Departement Manche. Dessen grösste Stadt ist Cherbourg-Octeville. Hier in der Gegend landeten die Alliierten am 6. Juni 1944. Es war der D-Day. Die Landung hatte ihre geografische Logik. Dieser äusserte Nordwestzipfel war der am einfachsten zu erobernde Landflecken auf dem Kontinent. Seit Jahrhunderten führt dieser Küste entlang ein gut ausgebauter Pfad, der heute ein Wanderweg ist. Er erleichterte den Grenzwächtern die Überwachung der Küstenlinie. Wer am Kap de la Hague steht, sieht die 15 Kilometer westlich im Meer gelegene Kanalinsel Alderney. Wenn Contentin als Ganzes eine Halbinsel ist, so darf man die Region La Hague nochmals als Halbinsel auf der Halbinsel bezeichnen. Zwischen Alderney und dem Kap La Hague liegt die so genannte Strasse von Alderney. Hier gibt es eine der stärksten Gezeitenströmungen Europas – eine präzise funktionierende Wechselströmung mit einer Geschwindigkeit von rund 20 Kilometern pro Stunde. Deshalb bauen hier die Firmen Open Hydro aus Irland und Alderney Renewable Energy aus Grossbritannien für 600 Millionen das grösste Gezeitenkraftwerk der Welt. 150 Turbinen werden 300 Megawatt Strom liefern und 150‘000 Haushalte mit erneuerbarer Energie versorgen – als Gegensatz zu den Atomkomplexen auf Contentin.
Kultivierte Verschlossenheit
Aus der Satellitenperspektive präsentiert sich die Wiederaufbereitungsanlage als gigantischer, rund zwei Quadratkilometer grosser Industriekomplex. Selbstverständlich hätten wir im Februar 2016 auch die Wiederaufbereitungsanlage La Hague gerne besucht. Doch aus Gründen der nationalen Sicherheit und der Notstandsgesetze sei dies nicht möglich, hiess es. Auf die Bitte, mit einem Ingenieur oder einer Managerin ausserhalb der Anlage sprechen zu dürfen, ganz einfach um auch atomfreundliche Stimmen zu hören, gab es keine Antwort mehr. Dasselbe passierte auch im nahe gelegenen Flamanville, das von EDF (Électricité de France) betrieben wird. Eine Demokratie lebt eigentlich von einer Kultur der Offenheit. Dies gilt nicht nur für das politische Leben, auch für die Wirtschaft und für gesellschaftliche Prozesse. So betonen Politiker und Kulturschaffende nach den Terroranschlägen immer wieder, sie liessen sich nicht einschüchtern. Doch das scheint für die Atomenergie in Frankreich nicht zu gelten. Vielleicht ist diese Verschlossenheit aus Sicherheitsgründen sogar nötig. Zahlreiche Drohnenflüge über französischen Kraftwerken im vergangenen Jahr hinterliessen ein mulmiges Gefühl. Jedenfalls scheint Kommunikation nicht gerade eine Kernkompetenz der Kernkraftwerkbetreiber zu sein. Und: Verschlossenheit öffnet auch Spekulationen Tür und Tor. Auch bei der Bevölkerung von La Hague. Die Angst ist gross, dass die hoch verschuldeten Konzerne EDF und AREVA bei der Sicherheit sparen werden. Dies würden Mitarbeiter der Werke auch bestätigen, behaupten einige. Je stärker die demokratischen Staaten zu Sicherheitsmassnahmen gezwungen werden, umso ungeeigneter ist Kernenergie, um die Energieversorgung zu gewährleisten. Denn bei einem Kernkraftwerk kann mit einem gezielten Terroranschlag ein grosser Schaden angerichtet werden.
Das Kernkraftwerk Flamanville liegt in Sichtdistanz der Wiederaufbereitungsanlage La Hague. In Flamanville sind zwei Druckwasserreaktoren mit einer Gesamtleistung von über 2700 Megawatt in Betrieb. Ein dritter Reaktor, der Europäische Druckwasserreaktor (EPR), ist noch im Bau. Wie bei der typengleichen Anlage im finnischen Olkiluoto verzögert sich dieser schier unendlich – bei gleichzeitiger Kostenexplosion. Ursprünglich hätte der dritte Reaktor 2012 nach Baukosten in der Höhe von 3,3 Milliarden Euro in Betrieb genommen werden sollen. Als möglicher Termin für die Inbetriebnahme wird nun 2018 genannt und die Baukosten werden sich mindestens auf 11 Milliarden Euro anhäufen. Die Erbauer AREVA und EDF haben mit schweren baulichen Problemen zu kämpfen. So entdeckte die nationale Aufsichtsbehörde, die „autorité de sûreté nucléaire“ (ASN) schwere Anormalen im Beton des Schutzdeckels über dem Druckwasserbehälter, sowie im Betonsockel, der bei einem schweren Unfall ein Durchschmelzen des Kerns in den Untergrund verhindern soll.
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