Schwierige Neubauten

geschrieben von  Martin Arnold

Von den sich im Bau befindlichen Kernkraftwerken stehen zwei Drittel in den Ländern China, Indien oder Russland. In Europa ist der Bau von Atomkraftwerken der neuesten Generation zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang geworden.

Die Vereinigten Arabischen Emirate und Weissrussland bauen an ihren ersten Atomkraftwerken. Weitere Länder planen, mehr oder weniger konkret, in die Produktion von Nuklearenergie einzusteigen. Dazu zählen Polen, Litauen, die Türkei, Jordanien, Bangladesch sowie Vietnam. Die Autoren des »Status Reports 2014« für die Nuklearenergie schätzen allerdings die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung von Bauplänen in diesen Ländern als eher gering ein.
Die durchschnittliche Bauzeit eines Kernkraftwerkes beträgt mittlerweile zehn Jahre, doch die Unterschiede sind groß: Während man in China einen Reaktor im Schnitt in siebeneinhalb Jahren gebaut hat, nahm Atucha-2 in Argentinien nach einer Konstruktionszeit von 33 Jahren im Jahr 2014 seinen Betrieb auf. Warum die durchschnittliche Bauzeit stetig ansteigt, ist auch den Autoren des »Status Reports 2014« über die Nuklearindustrie nicht ganz klar. Sicher spielen die steigenden Sicherheitsansprüche, der längere bürokratische Hürdenlauf bis zur Baugenehmigung und der politische Widerstand eine Rolle. Es fällt auf, dass die Bauperiode in den asiatischen Staaten zumindest bis zum Reaktorunfall von Fukushima kürzer und damit kalkulierbarer war. Die Autoren des „Status-Report“ äußert nun aber Zweifel, was die Qualitätskontrolle in einigen asiatischen Kraftwerken betrifft. Bei den meisten Projekten in Europa oder den USA sind Verspätungen bei der Planung, dem Baustart, während der Bauphase und bei der Abnahme die Regel. Laut dem »Status Report 2014« haben sich die veranschlagten Baukosten innerhalb von zehn Jahren bis zu verachtfacht. Die Schere zwischen den tiefen Energiepreisen auf dem Markt und den hohen, unberechenbaren Baukosten sowie den komplexen Sicherheitsfragen öffnet sich immer mehr. Das schreckt private Investoren ab. Doch öffentliche Unternehmen wollen immer weniger die alleinige Verantwortung übernehmen. Eine aktuelle Studie der Hertie-Stiftung kommt zum Ergebnis, dass in Deutschland öffentliche Grossprojekte im Durchschnitt fast 75 Prozent teurer werden als geplant. Ganz besonders aus dem Ruder laufen nach Analyse von Professor Genia Kostka Kernkraftwerke, IT-Projekte, aber auch Offshore-Windparks.

Gravierende Qualitätsprobleme
Ein schwieriges Schicksal erlebt beispielsweise das Bauprojekt des französischen AKWs Flamanville in der Region Basse-Normandie bei der Erstellung eines dritten Reaktors. Beim Druckwasserreaktor EPR der dritten Generation werden Verzögerungen beim Bau und Kostensteigerungen in Milliardenhöhe gemeldet. Mit AREVA ist hier der gleiche Erbauer am Werk wie in Olkiluoto-3 in Finnland. Flamanville hätte zwischen 2007 und 2012 erbaut werden sollen. Die Kosten wurden bei Baubeginn auf 3,3 Milliarden Euro veranschlagt. Inzwischen werden sie nach eigenen Aussagen auf fast 11 Milliarden Euro geschätzt und das Werk wird voraussichtlich nicht vor 2018 den Betrieb aufnehmen können. Wenn überhaupt: Die französische Atomaufsichtsbehörde Autorité de sûreté nucléaire hatte schon vor Jahren die Betonmischung bemängelt, die den Druckwassasserbehälter mit den Brennstäben im Katastrophenfall im Durchschmelzen in die Erde hintern soll. Gleichzeitig wurde auch der Beton des Schutzmantels kritisiert. Neu zweifelt die Aufsichtsbehörde auch die Festigkeit der Stahlträger an. AREVA hat nun bis Mitte 2016 Zeit, Vorschläge für die Lösung dieses Problems zu präsentieren. Nicht nur Einheimische wundern sich über die nachlassende Qualität schon beim Bau. Liegt es an den Sub-Sub-usw-Unternehmen, an den Sprachschwierigkeiten der Mittarbeiter als zahlreichen Ländern, an billigeren Rohmaterialien am sonstigen Sparzwang, wie einige Bewohner der Normandie hinter vorgehaltener Hand vermuten? Eine Aktivistin sagt deutlich: Wir sind uns ja aus der Autoindustrie, der Lebensmittelproduktion und vielen anderen Branchen, Pleiten, Pech und Pannen aus Gründen der Gier und Gewinnmaximierung gewohnt. Nur sollte dies eben auf keinen Fall beim Bau von Kernkraftwerken so sein.“ Wie Finnland und andere europäische Länder hat auch Frankreich, zweitgrösster AKW-Betreiber der Welt, zahlreiche nukleare Anlagen in Betrieb, die ihre Altersgrenze bald erreichen. Deshalb hat Energieministerin Ségolène Royal Ende Februar 2016 flugs die Laufzeiten der 58 Kraftwerke von 40 auf 50 Jahre verlängert, eine Praxis, die inzwischen überall in Europa und den USA verfolgt wird. Doch nicht selten sind Laufzeitverlängerungen mit neuen Sicherheitsauflagen verbunden, die die Wirtschaftlichkeit der Kernkraftwerke gefährden und Ausstiegsszenarien wahrscheinlich machen. Jeder Betreiber muss die Buchhaltung machen: Neubau? Politisch und finanziell sehr schwierig, Weiter betreiben? Möglich, aber wie entwickeln sich die Stromkosten und die Sicherheitsauflagen? Oder: Aussteigen. Einige ziehen ein Ende mit Schrecken, andere ein Schrecken ohne Ende vor. Wiederum andere möchten sich auf die Abenteuerreise: Betrieb eines Kernkraftwerkes begeben.

Hoffnungsschimmer China und Indien
Die Anbieter aber auch Käufer von Kernkraftwerken brauchen in der Regel eine Investitionsgarantie, um überhaupt bauen zu können. Das ist kompliziert. Deshalb schließen sich Anbieter zusammen. Grosse Konsortien müssen mit Regierungen als Partner auftreten, was wiederum die Planung verzögert. Tendenziell treten Länderteams – Firmen und Regierungen – als Verkäufer auf. Die wichtigsten Länder sind Frankreich mit EDF und AREVA, Japan mit Hitachi-GE, Toshiba-Westinghouse und Mitsubishi, Korea mit KEPCO, sowie Russland mit Rosatom und in Zukunft vielleicht China. Die Erfahrungen waren für die französische AREVA und die deutsche Siemens beim Kernkraftwerk Olkiluoto-3 in Finnland so schlecht, dass Siemens aus der AREVA NP, einer gemeinsamen Tochter mit der französischen AREVA, ausgestiegen ist und seinen Anteil dem Partner überlassen hat. Als unternehmerische Lehre aus dem schwierigen Bauprojekt in Finnland entwickelt sich als Trend ein neues Geschäftsmodell. Die Verkäufer planen, bauen und betreiben das künftige Kernkraftwerk. Es bleibt teilweise oder ganz in ihrem Besitz, wie dies in Akkuyu (Türkei) beim Kraftwerkprojekt des russischen Erbauers Rosatom geplant ist. Der Vertrag scheint riskant. Es ist vorgesehen, dass das Kernkraftwerk Akkuyu ein Erdbeben mit einer Magnitude von nur 6,5 auf der Richterskala überstehen muss. In einer Gegend, wo starke Erdbeben vorkommen, scheint diese Regelung nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für die Erbauer ein Risiko. Auch die Überprüfung der Umweltverträglichkeitsprüfung hat bisher noch nicht stattgefunden. Die Ausweitung ihrer Tätigkeit zu Betreibern haben die Anbieter zwar nicht gesucht, es hat für sie aber Vorteile. Sie haben mehr Kontrolle über das Projekt und müssen nicht schlüsselfertig zu einem Fixpreis bauen.
Auch die asiatischen Anbieter tun sich schwer. Während in Japan Hitachi und Toshiba von General Electric lizenzierte Kraftwerke anbieten, kooperierte Mitsubishi mit dem US-Konzern Westinghouse. Dies, weil es nach dem verlorenen Krieg die Amerikaner waren, die die Kernkraft-Technologie auf die Insel brachten. Trotz vielseitiger japanischer Weiterentwicklungen harzt das Geschäft. Den Schock von Fukushima hat die Kernkraftwerkindustrie nicht überwunden. Zudem muss beispielsweise die koreanische Kernkraftwerk-Bauindustrie mit einem Skandal kämpfen. Dabei geht es um gefälschte Qualitätskontroll-Zertifikate, die darauf schließen lassen, dass sie bei Tausenden von Bauteilen Kontrollen gar nicht erst durchgeführt wurden. Etwas besser ergeht es Rosatom und dem russischen Kernkraftwerkbau. Bestellungen aus China, Indien und im Heimmarkt lassen die Verantwortlichen mit gewissem Optimismus in die Zukunft schauen.

Versteckte Subventionierung?
In Westeuropa gibt es ein grosses, neues Projekt. Zum Rekordpreis von 8000 Dollar pro Kilowatt will Grossbritannien Hinkley Point C im Südwesten der Insel bauen lassen. Dies führt zu einem Gesamtpreis von fast 12 Milliarden Euro. Diesen offiziellen Schätzungen werden andere Prognosen gegenüber gestellt, etwa von der EU, die von über 30 Milliarden Euro ausgeht. Dafür soll ein französisch-chinesisches Konsortium mit EDF, AREVA und der chinesischen Guangdong Nuclear Power Corporation Holding zwei AREVA-Reaktoren erstellen, mit einer Gesamtkapazität von 3260 Megawatt. Großbritannien verfolgte bereits unter Toni Blair die Strategie, mit der Kernenergie gegen den Klimawandel anzukämpfen. Damit begründete die Regierung den geplanten Bau von Hinkley Point C. Gegen die Darstellung, einzig Kernenergie helfe gegen den übermäßigen Kohlenstoffausstoß, ging Greenpeace vor Gericht und gewann: Die Argumentation zum Vorzug der Kernenergie fanden die Richter mangelhaft und die Vorgehensweise unkorrekt. Das Beispiel zeigt: Versprechen und Realität klaffen bei Hinkley Point C weit auseinander. Die Regierung versprach ursprünglich, einen Reaktor ohne Unterstützung bauen zu lassen; er würde rund vier Milliarden Euro kosten und nach seiner Fertigstellung 2017 zu Marktpreisen konkurrenzfähig Strom produzieren. Der Erbauer würde aus einem Wettbewerb ausgewählt und der künftige Reaktor solle dann als Vorbild für neun weitere Reaktoren dienen. Doch am 21. Oktober 2013 wurde zwischen der britischen Regierung und EDF ein ganz anderes Geschäft vereinbart und veröffentlicht. Demnach will die Regierung 70 Prozent der Baukosten übernehmen. Zudem garantiert sie für 35 Jahre ab Inbetriebnahme eine Einspeisevergütung in der Höhe von 109 Euro pro Megawatt plus Inflationsausgleich auf der Preisbasis von 2012. Dies ist das Doppelte des durchschnittlichen englischen Stromgroßhandelspreises im Jahr 2013 und liegt oberhalb der gültigen Einspeisevergütung für Windkraftanlagen in Deutschland. Genau diese Unterstützung für die Windenergie wird aber oft als Beispiel einer Marktverzerrung zugunsten nachhaltiger Energiequellen aufgeführt. Der erste von zwei Hinkley-Point C-Reaktoren geht frühestens 2023 ans Netz; es werden nur zwei gebaut und zwar vom erwähnten französisch-chinesischen Konsortium. Ob aber überhaupt je gebaut wird, ist noch keineswegs sicher. Verschiedene EU-Länder haben bei der Kommission und beim Europäischen Gericht Klage eingereicht gegen diese Form von Subventionen. Im Mai 2016 ist der Finanzchef der EDF zurückgetreten – angeblich wegen erheblicher Zweifel an der Finanzierbarkeit des Projektes.


Zum Weiterlesen:

Bo Qiang Lin, Ökonom, China: "Haben wir eine Alternative?"

Ortwin Renn, Umwelt und Techniksoziologe, Deutschland: "Es geht um die Akzeptanz."

Geologisches Tiefenlager

  • Geologisches Tiefenlager

    Zu einem geologischen Tiefenlager gehören sowohl die Oberflächen-Anlage als auch die in mehreren hundert Metern Tiefe im Wirtgestein liegende Anlage, in der die radioaktiven Abfälle in Stollen oder Kavernen mithilfe passiver Sicherheitsbarrieren [siehe auch Geologische Barriere] dauerhaft von Mensch und Umwelt isoliert werden.

Castorbehälter

  • Castorbehälter

    Behälter zur Aufbewahrung und zum Transport radioaktiven Materials. Castor ist ein geschützter Name der Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS). Ein gefüllter Castorbehälter wiegt 110 bis 125 Tonnen. Die Herstellung eines Castorbehälters kostet rund 1,5 Millionen Franken. Zur Aufbewahrung radioaktiver Materialien werden auch noch andere Behälter benutzt. Alle müssen aber dieselben technischen Anforderungen erfüllen. Sie weisen beispielsweise mehrere Druckräume auf.

Bis in die Ewigkeit: Ausschnitt aus dem empfehlenswerten Dokumentarfilm "Into Eternity" (2010)

Mensch + Energie

Vor dem Hintergrund der aktuellen „Energiewende“-Debatten möchten wir einen kritischen Diskussionsbeitrag leisten für all jene, die mehr wissen wollen zum Thema Energie. Und wir möchten einen Beitrag leisten, die tiefen ideologischen Gräben zu überwinden, die Befürworter und Gegner trennen. Denn die Wahrheit wird bei diesem Thema sehr schnell relativ bzw. relativiert, man bewegt sich auf einem Feld, in dem sich Experten, Meinungsmacherinnern, Ideologen, Betroffene, Opfer, Lobbyisten, Politikerinnen und Weltenretter tummeln. Sie alle sollen zu Wort kommen, sie sollen von ihrer Wahrheit erzählen, der Wahrheit des Strahlenopfers ebenso wie jener des Kraftwerkbetreibers, des Befürworters und der Gegnerin.

Kernfusion

  • Kernfusion

    Bei der Kernfusion verschmelzen in einer Kettenreaktion zwei Atomkerne zu einem neuen Kern. Es ist dieser Prozess, der auch die Sonne in einen leuchtenden Stern verwandelt. Konkret verschmelzen bei extrem hohen Temperaturen die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium zu einem Heliumkern. Dies unter Freisetzung eines Neutrons und Energie. Diese Fusionsreaktion ist die Ursache für die Zerstörungskraft von Wasserstoffbomben. Seit Jahrzehnten experimentieren Forscher damit, sich dieses unglaubliche Energiepotenzial zunutze zu machen. Bislang verbrauchten die Kernfusionsversuche mehr Energie, als sie einbrachten. In Südfrankreich befindet sich der Fusionsreaktor Iter im Bau, der ab 2020 im großen Umfang Informationen über die weitere Entwicklung dieser Technologie geben soll. An dem 16 Milliarden Euro teuren Experiment sind zahlreiche Länder beteiligt. Es ist eine offene Frage, ob die Kernfusion tatsächlich einmal Strom für den Massenkonsum bringen kann. Auf jeden Fall wird dies noch Jahrzehnte dauern.

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