Gorleben: Kriterien dem schlechten Standort angepasst

geschrieben von  Martin Arnold

Was bei der Endlagersuche alles schief gehen kann, zeigt das Beispiel Gorleben im deutschen Bundesland Niedersachsen.




Salz ist das Gold der Heide. Es hat der schmucken Hansestadt Lüneburg Wohlstand gebracht. Die Bürgerhäuser sind gepflegt, die gotische St. Nicolaikirche aus Backstein wirkt wuchtig und leicht zugleich. Es ist die Kirche der Schiffer, die von hier aus Salz auf der Elbe nach Hamburg lieferten. Das Salz ist es aber auch, das den Einwohnern der Altstadt Probleme bereitet, genauer: das fehlende Salz. Überall wurden Tunnels gebohrt, um das Salz unterirdisch abzubauen. Frühere Generationen hatten nicht daran gedacht, dass genau diese Maulwurfsarbeit die Stabilität der Altstadt dereinst in Gefahr bringen würde. Das Salz: Seine Chancen und Gefahren beschäftigen auch heute noch die Menschen bis hin in die höchsten Regierungsämter.
Ganz in der Nähe von Lüneburg hat Rolf Adler, der Theologe und Pfarrer von Lüchow im Wendland, sein Büro. Er ist Umweltbeauftragter der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig, die Land besitzt, das der Staat für die Endlagerung benötigen würde. Dazu ist er Referent seines Bischofs Ralf Meister bei der neu gegründeten Endlagerkommission, die im Frühjahr 2014 erstmals tagte. Aufgabe der Kommission ist es, was schon längst hätte passieren sollen: Die Rahmenbedingungen zu formulieren, um eine ergebnisoffene Standortsuche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle durchzuführen. Das ist zwar schon im Jahr 2002 vom Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte in Angriff genommen worden, dann aber im Sande verlaufen. Denn das rund 70 Kilometer südöstlich liegende Gorleben wurde bereits 1977 als einziger möglicher Standort für ein Endlager ins Spiel gebracht, ohne eine ernsthafte, wissenschaftlich basierte Suche nach Alternativen durchzuführen. Gorleben besitzt Salz als sogenanntes Einschlussmedium.
Als die Regierung kräftig in ein Entsorgungszentrum mit Entladungswerk, Zwischenlager und Heisse Zelle investierte, freute dies manchen Bürgermeister. Die Atomenergie brachte Arbeitsplätze und damit scheinbar eine wirtschaftliche Zukunft. Die Bevölkerung ahnte jedoch schnell, dass sie hier einen hohen Preis zu zahlen hatte, dass man ihr den Schwarzen Peter der ungelösten Atommüllfrage zusteckte. Widerstand regte sich und es kam zu ersten Demonstrationen, die die Polizei zu unterbinden suchte. Zum Symbol dieser Proteste entwickelten sich die Castor-Transporte, mit ihren hochgefährlichen, abgebrannten Brennstäben, die auf dem Schienen- und Strassenweg nach Gorleben gebracht wurden. Die Atomkraft und ihre Folgen waren die ganze Zeit, in der Rolf Adler in der Nähe von Gorleben arbeitete, das beherrschende Umweltthema. Es hat die Bevölkerung einer ganzen Region bis heute geprägt. Es gab die Bürgerinitiative Umweltschutz, aber auch die Bäuerliche Notgemeinschaft, die argumentierte: Bauern können ihre Äcker nicht evakuieren. In der Initiative 60 fanden sich ältere Herrschaften ein, die sich auch schon mal als Strickgruppe vor das Zwischenlager setzten, um die Einfahrt symbolisch zu blockieren. Auch wenn sich längst nicht alle Bewohner gegen das Endlager engagierten, war doch eine stabile Mehrheit in der Region dagegen. Im Laufe der Jahre verhärteten sich die Fronten.

Politischer Klüngel

Dass Gorleben überhaupt je als Endlager in Betracht gezogen wurde, hatte wohl mit seiner grenznahen Lage zur ehemaligen DDR zu tun. Offensichtlich kalkulierten die Standortsucher hier mit dem geringsten Widerstand und konnten den örtlichen Politikern das Projekt als Wirtschaftsförderung in einer Randregion schmackhaft machen. Den Kernkraftwerken ging es ursprünglich nicht in erster Linie um ein Endlager, sondern um Zwischenlagerung oder Wiederaufbereitung der Brennstäbe. Jedenfalls wollten sie die abgebrannten Brennelemente in ihren Behältern aus der Umgebung der Atomkraftwerke weg haben. Sonst hätte es nach betriebseigenen Prognosen schon Anfang der 1980er-Jahre zu Abschaltungen aus Platzmangel kommen müssen.
Das Kernstück der ursprünglichen Pläne in Gorleben war deshalb der Bau einer Wiederaufbereitungsanlage. Zentral war dafür ein Eingangslager, also ein Ort für die Zwischenlagerung der schon bestehenden radioaktiven Abfälle. Die Endlagerung sollte allerdings gleich an Ort und Stelle ermöglicht werden. Aus 240 möglichen Standorten wurde damals eine Shortlist mit acht möglichen Standorten erstellt. Gorleben tauchte nicht einmal bei den 240 Namen auf. Die Begründung: Die wasserreiche Lage am Elb-Ursprungsstrom und die Tatsache, dass die schützende Tonschicht von diesem in Urzeiten weggeschoben wurde, liess den Standort ausser Rang und Traktanden fallen. Denn eine Tonschicht wäre für den problematischen Standort immerhin ein Sicherheitsnetz. Favoriten waren damals die Nidersächsischen Gemeinden Börger in der Nähe von Osnarbrück, Ahlden im Heidekreis Lichtenhorst und Lutterloh. Nach dortigen heftigen Bürgerprotesten und dem Einsatz von Wirtschaftsprominenz tauchte plötzlich ohne wissenschaftliche Abklärung der Name Gorleben auf. Dies und weitere brisante Informationen sind dokumentarisch belegt. Ihre Einsicht hatte Mathias Edler, wohnhaft im betroffenen Wendland, Politologe, Bierbrauer und Experte bei Greenpeace für die Endlagerfrage gerichtlich erstritten.

Breiter Widerstand

Ein wichtiger Teil des für das Endlager benötigten Landes war zudem im Besitz von Andreas Graf von Bernstorff, einem CDU-Mitglied und Parteigänger des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht. Von ihm wurde angenommen, er würde die Pläne billigen oder sich zumindest loyal verhalten und sein Land der Bundesregierung verkaufen. Zumal 1975, kurz vor den Verhandlungen ein Teil des Waldes, wo das spätere Endlager eingerichtet werden sollte, „überraschend“ abbrannte. Doch diese Entwertung beeindruckte den Grafen nicht: Er liess sich nicht einmal von 35 Millionen Deutsche Mark für 600 Hektar Land kaufen und wurde ein erbitterter Gegner der Endlagerpläne. Auch die Evangelische Kirche besitzt Land, das sie bis heute nicht verkaufen will. Rückblickend sagt Mathias Edler von Greenpeace: „Es gab einen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, der damals ohne offiziellen Auftrag Gorleben quasi als Strukturhilfeprojekt ins Spiel brachte, denn Baukosten zwischen drei und fünf Milliarden Euro, sowie 5000 Arbeitsplätze sind für die ärmste Randregion eines Bundeslandes verlockend.“ Doch Experten wussten: Probleme gab es dort nicht nur mit drohenden Wassereinbrüchen und der nicht vorhandenen Lehmschicht. Es ist bei Probebohrungen auf allen Ebenen Gas gefunden worden, von dem die Befürworter eines Endlagers in Gorleben behaupteten, es sei ausschliesslich im Salz selbst gebildet worden. Dass in allen Gesteinsproben Gase gefunden wurden und auch solche, die eben nicht im Salzstock selbst gebildet worden sein können, also von aussen eingedrungen sein müssten, führte genauso wenig zur Aufgabe des Standortes wie die Lage des Salzstocks über einem Erdgasfeld. Denn diese Erkenntnis bedeutet: Wenn Gas von weit her durch das Salz eindringt, kann radioaktives Material ebenso hinaus diffundieren. Mathias Edler fand in den von ihm untersuchten Akten Beweise, dass den Bundesbehörden die Gasproblematik sehr wohl bekannt war, aber sie zu keinerlei Konsequenzen veranlasste. Was ihn weiter alarmierte: In den Dokumenten der Kernbrennstoff-Wiederaufbereitungs-Gesellschaft (KEWA), die drei andere Standorte favorisiert hatte, wurde Gorleben nachträglich plötzlich an erster Stelle genannt. „Man betrieb gegen alle Erkenntnis bereits 1977 Geschichtsklitterung und suggerierte, Gorleben sei das Ergebnis eines seriösen Auswahlverfahrens, das es nie gab. Jedenfalls folgten 1979–1981 Probebohrungen, 1983 die Entscheidung für Gorleben, dann der Bau der Schächte, des Zwischenlagers und einer Heissen Zelle zur endlagerfähigen Verpackung des Mülls. Ein sogenanntes Planfeststellungsverfahren der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) begleitete den Bau der Anlagen, denn es bestand wegen der früher erwähnten Schwierigkeiten im Salzbergwerk Asse Zeitdruck. Bei einer rückwirkenden Analyse des Eignungsverfahrens für Gorleben stellte Edler fest: „Man hat die ursprünglich strengen Kriterien auch in Bezug auf die geologischen Verhältnisse bei einem Endlager sukzessiv der ungünstigen Realität in Gorleben angepasst.“ In den folgenden Jahrzehnten geriet Gorleben nie mehr aus den Schlagzeilen. Die folgenden Umweltminister sahen sich genötigt, zu versuchen, Gorleben im Nachhinein als idealen Standort aufzubauen. Sie taten das, in dem sie andere Standorte untersuchten, aber Gorleben ausklammerten. Greenpeace wandte dieselben Kriterien auch für Gorleben an und kam zum Schluss, dass es dieser Standort nicht einmal und die geeigneten 10 schaffen würde. Seit 2014 finden keine Castor-Transporte mehr nach Gorleben statt. Die heftigen Bürgerproteste, der beschlossene Ausstieg aus der Kernenergie und die auch unter Wissenschaftlern umstrittene Standortsuche haben zu einem Umdenken geführt. Deutschland ist zurück auf Feld 1. Die neu gegründete Endlagerkommission soll das zukünftige Vorgehen umschreiben, nachdem nun ein Standort gesucht wird. Der Bericht könnte möglicherweise erst 2017 fertig gestellt sein. Die Kommission zählt 34 Mitglieder. Einsitz haben Vertreter der Industrie, aber auch von Umweltverbänden, den Kirchen und Gewerkschaften. Greenpeace ist nicht dabei, weil die Organisation nicht nur das Vorgehen, sondern auch die Zusammensetzung der Kommission kritisiert: „Entscheidungen der Kommission müssen mit einer Zweidrittelmehrheit gefällt werden. Zwar haben die Politiker kein Stimmrecht, aber die Zusammensetzung ist so, dass mindestens die Hälfte einem Standort Gorleben als Endlager positiv gegenüber eingestellt ist.“ Edler hält die Kommission deshalb für eine Farce: „Die Interessen der Politiker werden über die Zusammensetzung der Kommission gewahrt. Kommissionsmitglieder aus Baden-Württemberg oder Bayern werden niemals das Endlager zu sich holen.“

Teuer und gefährlich

Solange lagern Castoren, also Behälter mit hoch radioaktivem Inhalt in Gorleben und anderswo nur wenig geschützt. Nach alten Plänen sollte Deutschlands Endlager 2034 fertig sein. Mathias Edler hält das für eine Illusion. Er schätzt, dass es 2060 bis 2070 wird, bis eine Lösung zur Verfügung steht. Die Castor-Behälter müssten also an ihren jetzigen Standorten viel länger lagern, als dies vorgesehen war. Allerdings sind die Behälter nur für eine Lagerung von 40 Jahren zugelassen, die dann überschritten wird. Was tun? Notfalls eine neue Hülle bauen, den Deckel verstärken? Dann sind sie allerdings nicht mehr kompatibel für die eigens für sie hergestellten Transportsysteme. Vielleicht müsste man auch besser geschützte Zwischenlager bauen? Dies alles lenkt den Blick auch auf die Endlagerkosten. Für Deutschland rechnen Edler aber auch Politiker wie Jürgen Trittin mit wesentlich höheren Kosten als die rund 36 Milliarden Euro, die die Industrie nicht nur für die Endlagerung der Abfälle, sondern auch für den Rückbau der Atomanlagen eingeplant hat: Edler glaubt: „Am Ende werden die angeblich seriösen Kostenrechnungen explodieren – wie in der Vergangenheit.“
Das allerdings die Endlager-Stätte erst nach der Schliessung der Kernkraftwerke zur Verfügung steht, ist für den Schweizer Geologen Marcos Buser kein Nachteil: „Es ist für die Endlagerung ein Vorteil, wenn die Kavernen erst nach der Schliessung der Kernkraftwerke zur Verfügung stehen. Die Verantwortlichen wissen dann genau, mit welcher Menge radioaktivem Abfall sie es zu tun haben.“ Während schwacher und mittlerer radioaktiver Abfall in der Industrie und der Medizin auch in Zukunft noch anfällt, kann der hochradioaktive Abfall irgendwann endgültig der Geschichte übergeben werden.“ Auch wenn er nur 10 Prozent der Abfallmenge ausmacht, sind es weltweit doch Hunderttausende von Tonnen, welche sicher unter die Erde müssen. Es hätten ursprünglich weniger werden sollen, weil die Gewinnung der Kernenergie schon früh an die Wiederaufbereitung gekoppelt war. Werden die atomaren Brennstäbe wiederaufbereitet fällt zwar deutlich weniger Abfall an. Ein Endprodukt aus der Wiederaufbereitung ist jedoch waffenfähiges Plutonium. Der ehemalige amerikanische Präsident Jimmy Carter wollte die weitere Verbreitung der Atomwaffen verhindern. In seine Zeit fällt der mittlerweile weit verbreitete Verzicht auf eine konsequente Wiederaufbereitung.





Geologisches Tiefenlager

  • Geologisches Tiefenlager

    Zu einem geologischen Tiefenlager gehören sowohl die Oberflächen-Anlage als auch die in mehreren hundert Metern Tiefe im Wirtgestein liegende Anlage, in der die radioaktiven Abfälle in Stollen oder Kavernen mithilfe passiver Sicherheitsbarrieren [siehe auch Geologische Barriere] dauerhaft von Mensch und Umwelt isoliert werden.

Castorbehälter

  • Castorbehälter

    Behälter zur Aufbewahrung und zum Transport radioaktiven Materials. Castor ist ein geschützter Name der Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS). Ein gefüllter Castorbehälter wiegt 110 bis 125 Tonnen. Die Herstellung eines Castorbehälters kostet rund 1,5 Millionen Franken. Zur Aufbewahrung radioaktiver Materialien werden auch noch andere Behälter benutzt. Alle müssen aber dieselben technischen Anforderungen erfüllen. Sie weisen beispielsweise mehrere Druckräume auf.

Bis in die Ewigkeit: Ausschnitt aus dem empfehlenswerten Dokumentarfilm "Into Eternity" (2010)

Mensch + Energie

Vor dem Hintergrund der aktuellen „Energiewende“-Debatten möchten wir einen kritischen Diskussionsbeitrag leisten für all jene, die mehr wissen wollen zum Thema Energie. Und wir möchten einen Beitrag leisten, die tiefen ideologischen Gräben zu überwinden, die Befürworter und Gegner trennen. Denn die Wahrheit wird bei diesem Thema sehr schnell relativ bzw. relativiert, man bewegt sich auf einem Feld, in dem sich Experten, Meinungsmacherinnern, Ideologen, Betroffene, Opfer, Lobbyisten, Politikerinnen und Weltenretter tummeln. Sie alle sollen zu Wort kommen, sie sollen von ihrer Wahrheit erzählen, der Wahrheit des Strahlenopfers ebenso wie jener des Kraftwerkbetreibers, des Befürworters und der Gegnerin.

Kernfusion

  • Kernfusion

    Bei der Kernfusion verschmelzen in einer Kettenreaktion zwei Atomkerne zu einem neuen Kern. Es ist dieser Prozess, der auch die Sonne in einen leuchtenden Stern verwandelt. Konkret verschmelzen bei extrem hohen Temperaturen die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium zu einem Heliumkern. Dies unter Freisetzung eines Neutrons und Energie. Diese Fusionsreaktion ist die Ursache für die Zerstörungskraft von Wasserstoffbomben. Seit Jahrzehnten experimentieren Forscher damit, sich dieses unglaubliche Energiepotenzial zunutze zu machen. Bislang verbrauchten die Kernfusionsversuche mehr Energie, als sie einbrachten. In Südfrankreich befindet sich der Fusionsreaktor Iter im Bau, der ab 2020 im großen Umfang Informationen über die weitere Entwicklung dieser Technologie geben soll. An dem 16 Milliarden Euro teuren Experiment sind zahlreiche Länder beteiligt. Es ist eine offene Frage, ob die Kernfusion tatsächlich einmal Strom für den Massenkonsum bringen kann. Auf jeden Fall wird dies noch Jahrzehnte dauern.

Aus mensch-und-atom.org wird mensch-und-energie.org

 

header neumenschundatom2 

 

 

Eine Initiative des 

Logo neu2

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.