Der lange Weg zurück

geschrieben von  Martin Arnold

Ein wichtiger Teil der Arbeit an den Kernkraftwerken ist deren Rückbau. Mit dem Beschluss, ein Atomkraftwerk stillzulegen, geht die Arbeit erst richtig los. Was ein Ausstieg genau bedeutet, ist in Lubmin, dem einst grössten Kernkraftwerk der ehemaligen DDR zu sehen.


Im Endausbau sollten in Lubmin ursprünglich acht Blöcke je 440 Megawatt Energie liefern. Obwohl bereits Block 5 zu Ende gebaut und 1989 in den Probebetrieb genommen wurde, zeichnete sich nach der Wiedervereinigung in Deutschland das Ende des Stromlieferanten schnell ab. Block 6 war bereits ausgerüstet, nur der Kernbrennstoff fehlte noch. Zwischen der Inbetriebnahme von Block eins im Jahr 1973 und heute standen die Atomkatastrophe von Tschernobyl und der Zerfall der Deutschen Demokratischen Republik. Die Gründe, weshalb die neue und damit westliche Regierung nach dem Mauerfall Lubmin nicht mehr betreiben wollte, sind nicht ganz klar. Das Vertrauen in die Kernenergie war sicher angeschlagen, und auch wenn das Kernkraftwerk Greifswald kein Graphit-Reaktor war, wie jener von Tschernobyl, sondern ein Druckwasserreaktor, so bestand er doch aus sowjetischer Technologie. Dieser misstrauten Bürger und Politiker nach der Katastrophe in der Ukraine. 1990 wurde Lubmin ausser Betrieb genommen und 1991 mit der Entwicklung eines Konzeptes für den Rückbau begonnen. Der erste Schritt war eine physische und radiologische Inventarisierung sämtlicher Bauteile. Vier Jahre später genehmigte das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommerns offiziell das Rückbaukonzept. Die fast 70 000 Einwohner zählende Stadt Greifswald war zu Zeiten der DDR nicht arm, und dies lag gewiss nicht nur an der Universität. Der Wirtschaftsmotor für die mecklenburg-vorpommersche Hansestadt war das Kernkraftwerk. In seinen besten Zeiten verdienten 5'000 Mitarbeiter ihr Einkommen im Kernkraftwerk und weitere 10 000 auf den Baustellen für die Reaktorblöcke und im Maschinenhaus. Die Stilllegung war ein herber Schlag für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Gegend. Doch die Zukunft hat angefangen – mit neuen Firmen, die sich in dekontaminierten Gebäuden angesiedelt haben. „Das ausrangierte Atomkraftwerk bietet nun nachhaltigen Technologien eine Heimat. Auch dies gehört zur Geschichte des Atomkraftwerkes Greifswald“, sagt mit einem schelmischen Lächeln Gudrun Oldenburg, die stellvertretende Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit. Sie sagt offen: „Ich bin der Kernenergie gegenüber unaufgeregt eingestellt. Das Atomkraftwerk Greifswald hat auch unsere Familienexistenz gesichert.“
Mit Prozess meint Gudrun Oldenburg den geordneten Rückbau des Kernkraftwerkes, denn weltweit ist dies noch bei keinem Atommeiler von dieser Grösse geschehen. Es werden 1,8 Millionen Tonnen Material entsorgt. Landes- und Bundesbehörden, wie das Bundesamt für Strahlenschutz mussten zuerst einen Rahmen vorgeben und diesen halten die 700 Mitarbeiter des Energiewerkes Nord (EWN) ein, die noch immer hier arbeiten. Als oberste Prämisse gilt: Zur Endlagerung kommt nur so viel Material wie unbedingt nötig. Mit verschiedenen Technologien versuchen die Arbeiter, das einst verbaute Material von jeglicher Radioaktivität zu befreien, sofern seine Belastung nicht zu stark ist. Auch wenn für viele der verbliebenen Mitarbeiter mit der Demontage ihres Arbeitsplatzes eine seltsame Situation entstand, ist die ENW froh um sie. Ihre Fachkenntnisse sind unschätzbar. Inzwischen ist auch das seltsame Gefühl, den eigenen Arbeitsplatz zu vernichten, verschwunden. Erstens dauert der Prozess des Rückbaus länger als der Bau eines Kernkraftwerkes und zweitens sind die Kenntnisse die man sich angeeignet hat, bei vielen Atomenergiebehörden, aber auch bei der IAEA (Internationale Atomenergie-Organisation) gefragt. Vor allem beim Rückbau von Kernkraftwerken in Osteuropa sind die Greifswalder gefragte Berater.

Alles wird registriert

Bevor die Angestellten mit dem Rückbau beginnen konnten, musste zuerst der Kernbrennstoff entfernt werden. Dabei war es eine große Hilfe, dass für die Blöcke 7 und 8 schon Reaktorbauteile geliefert, die Blöcke aber noch längst nicht eingerichtet waren und Block fünf noch im Probebetrieb war. „Unsere Mitarbeiter machten dort Trockenübungen an diesen Reaktoreinbauten, die beispielsweise für Block 7 bestimmt waren“, erklärt Gudrun Oldenburg. Die Tatsache, dass mit dem Kraftwerk vertraute Arbeiter am Werk waren, verhinderte unangenehme Überraschungen. Trotzdem war die Demontage der Reaktordruckgefäße und ihrer Einbauten eine anspruchsvolle Aufgabe, die über Fernbedienung abgewickelt wurde, denn es sind stark radioaktive Bauteile. Inzwischen sind die Brennstäbe in Castor-Behältern geschützt und im Zwischenlager auf dem Gelände des Kernkraftwerks abgeschirmt. Gleichzeitig mit dem Beginn des Rückbaus musste deshalb das Zwischenlager erheblich vergrößert und die Werkstatt neu eingerichtet und eine Freimessanlage für die Lagerung der gesäuberten Bauteile gebaut werden.
Mit anderen Worten: Der Rückbau war mit einigen Neubauten verbunden. Die Dekontaminierungsarbeiten müssen sehr sorgfältig durchgeführt werden. Wie bei einem Kernkraftwerk in Betrieb, wird die Strahlung, die auf die Mitarbeiter und Besucher wirkt, mit Dosimetern sorgfältig gemessen. Diese Prozedur gilt auch für die Fotokamera des Journalisten. Besucher der Werkstatt müssen die Kleider und sogar die Unterwäsche wechseln.
Die Messungen sind auch für die Systematik des Rückbaus wichtig. Zuerst waren die wenig kontaminierten Teile an der Reihe, die leicht zu verarbeiten sind, dann die stärker belasteten Materialien. Dabei wird jedes Bauteil mit einer Fiche, das heisst mit einer eigenen Identitätsnummer versehen, der Beschreibung seiner ehemaligen Funktion, des Materials und weiterer Informationen. Wird es später auseinandergenommen oder zerlegt, bekommen die „Tochterteile“ ebenfalls ihre eigene Fiche. „Hier fällt nicht einmal ein Stück Würfelzucker vom Tisch, ohne dass dies registriert wird“, kommentiert Gudrun Oldenburg lakonisch. Rund zwei Drittel der Materialen sind unbelastet, ein Drittel ist belastet oder es besteht der Verdacht auf eine Kontaminierung. Sind sie stark radioaktiv, landen sie im Zwischenlager.
Wenn die Materialen von jeglicher Radioaktivität gereinigt sind, können sie wieder in Umlauf gebracht werden. Diese letzte Entscheidungsmessung findet in der Freimessanlage statt. Dann erwähnt der letzte Eintrag in der Fiche den Verkauf an einen Altstoffhändler oder die Entsorgung auf einer ordentlichen Deponie. Ziel ist es, dass am Schluss nicht mehr als 10 000 Tonnen Material in einem Tiefenlager untergebracht werden müssen.
Die Kosten werden sich bis zum Schluss auf deutlich mehr als vier Milliarden Euro belaufen haben. Doch dann ist noch lange nicht Schluss. Das Zwischenlager muss weiterhin stark bewacht werden, weil hier hochradioaktiver Abfall lagert. Sogar Panzersperren stehen ausserhalb des Zauns. „Beides ist wichtig, die Sicherheit, aber auch die Sicherung“, erklärt Gudrun Oldenburg. „Die Sicherheit bezieht sich auf den Strahlenschutz, die Sicherung verhindert die Möglichkeit, dass hochradioaktive Substanzen das Lager verlassen können oder Unbefugte hinein gelangen.“

zum Weiterlesen:

Horst Geckeis, Insitut für Technologie, Karlsruhe: "Vielleicht haben wir nicht mehr viel Zeit."

Marcos Buser, Geologe und Sozialwissenschaftler, Schweiz: «Verblasst unsere Erinnerung an das Atomzeitalter?»

Paul Bossart, Erdwissenschaftler, Schweiz: «Es geht um Glaubwürdigkeit und Transparenz in der Endlagerung.»

 

Geologisches Tiefenlager

  • Geologisches Tiefenlager

    Zu einem geologischen Tiefenlager gehören sowohl die Oberflächen-Anlage als auch die in mehreren hundert Metern Tiefe im Wirtgestein liegende Anlage, in der die radioaktiven Abfälle in Stollen oder Kavernen mithilfe passiver Sicherheitsbarrieren [siehe auch Geologische Barriere] dauerhaft von Mensch und Umwelt isoliert werden.

Castorbehälter

  • Castorbehälter

    Behälter zur Aufbewahrung und zum Transport radioaktiven Materials. Castor ist ein geschützter Name der Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS). Ein gefüllter Castorbehälter wiegt 110 bis 125 Tonnen. Die Herstellung eines Castorbehälters kostet rund 1,5 Millionen Franken. Zur Aufbewahrung radioaktiver Materialien werden auch noch andere Behälter benutzt. Alle müssen aber dieselben technischen Anforderungen erfüllen. Sie weisen beispielsweise mehrere Druckräume auf.

Bis in die Ewigkeit: Ausschnitt aus dem empfehlenswerten Dokumentarfilm "Into Eternity" (2010)

Mensch + Energie

Vor dem Hintergrund der aktuellen „Energiewende“-Debatten möchten wir einen kritischen Diskussionsbeitrag leisten für all jene, die mehr wissen wollen zum Thema Energie. Und wir möchten einen Beitrag leisten, die tiefen ideologischen Gräben zu überwinden, die Befürworter und Gegner trennen. Denn die Wahrheit wird bei diesem Thema sehr schnell relativ bzw. relativiert, man bewegt sich auf einem Feld, in dem sich Experten, Meinungsmacherinnern, Ideologen, Betroffene, Opfer, Lobbyisten, Politikerinnen und Weltenretter tummeln. Sie alle sollen zu Wort kommen, sie sollen von ihrer Wahrheit erzählen, der Wahrheit des Strahlenopfers ebenso wie jener des Kraftwerkbetreibers, des Befürworters und der Gegnerin.

Kernfusion

  • Kernfusion

    Bei der Kernfusion verschmelzen in einer Kettenreaktion zwei Atomkerne zu einem neuen Kern. Es ist dieser Prozess, der auch die Sonne in einen leuchtenden Stern verwandelt. Konkret verschmelzen bei extrem hohen Temperaturen die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium zu einem Heliumkern. Dies unter Freisetzung eines Neutrons und Energie. Diese Fusionsreaktion ist die Ursache für die Zerstörungskraft von Wasserstoffbomben. Seit Jahrzehnten experimentieren Forscher damit, sich dieses unglaubliche Energiepotenzial zunutze zu machen. Bislang verbrauchten die Kernfusionsversuche mehr Energie, als sie einbrachten. In Südfrankreich befindet sich der Fusionsreaktor Iter im Bau, der ab 2020 im großen Umfang Informationen über die weitere Entwicklung dieser Technologie geben soll. An dem 16 Milliarden Euro teuren Experiment sind zahlreiche Länder beteiligt. Es ist eine offene Frage, ob die Kernfusion tatsächlich einmal Strom für den Massenkonsum bringen kann. Auf jeden Fall wird dies noch Jahrzehnte dauern.

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