Freitag, 05 Juli 2019 10:59

Reise nach Absurdistan

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Bild zur Doku "Urlaub in der Sperrzone" (Bild: ARD) Bild zur Doku "Urlaub in der Sperrzone" (Bild: ARD)

Die Arte-Dokumentation „Urlaub in der Sperrzone“ zeigt, wie aus der verstrahlten Sperrzone von Tschernobyl ein Sightseeing-Ort für Tausende Touristen wurde.

Am 26. April 1986 kam es zur Atomkatastrophe von Tschernobyl. In der Folge wurde ein 3500 km2 grosses Gebiet in der ostukrainischen Region evakuiert. 350000 Menschen verloren ihre Heimat, und wurden zwangsumgesiedelt: eine menschliche und ökologische Tragödie von unfassbarem Ausmass. Doch die inzwischen baufällig gewordenen Ruinen sind heutzutage Sehenswürdigkeiten. Die Arte-Doku begleitet den geschäftstüchtigen Serhij Myrnyj und seine Reisegruppe in die Sperrzone, zu den illegalen Rückkehrern und denen, die keine Zukunft haben.

 

Spaziergang mit dem Geigerzähler
Am Grenzposten zum umzäunten Sperrgebiet wird Gruseliges feilgeboten: Tschernobyl-Eiscreme, und T-Shirts, die im Dunkeln leuchten. Die Szene lässt keine Zweifel am makabren Geschäft. Mehrere Reiseanbieter gibt es inzwischen. „Tschernobyl Tour“ des Diplom-Chemikers Serhij Myrnyj ist der grösste mit über 25 Mitarbeitern. „Es freut mich, dass ich heute anstelle militärischer Liquidatoren, riesige Touristengruppen sehe, wo ich einst die tausendfach höhere Strahlung gemessen habe“, sagt er.  Er war Ersthelfer, ein so genannter Liquidator der ersten Stunde, und für Strahlenmessung zuständig. Seine Bustour ins Sperrgebiet startet mit einer Aufklärung über die Reinigungsarbeiten der Liquidatoren. Zwar seien Kurzaufenthalte unbedenklich, aber manche Region teils schwer verschmutzt. Jeder Besucher erhält einen Geigerzähler. Nichts, was man sich im klassischen Sinn unter Reisen vorstellt, aber eine weltweit einzigartige Sightseeing-Tour, so der Kommentar.

 

Die neue Lust am Grauen
Von einem verstrahlten Dorf blieben nur die Reste eines Kindergartens: verrostete Gitterbetten, Puppen, denen Gliedmassen fehlen, der Putz bröckelt von den Wänden, Unrat ringsum. Handykameras und Strahlungsmesser klicken und ticken im Takt. Sensation-seeking heisst es neudeutsch, wenn Menschen immer einen neuen Kick brauchen, um sich begeistern zu können. „Es ist ein Erlebnis, das man auf der Welt nicht so schnell irgendwo anders findet“, sagt ein junger Schweizer Tourist. „Man fühlt sich wie im Friedhof“, meint ein Deutscher. „Ich will besser verstehen, warum man die Atomkraftwerke schliessen muss“, behauptet ein junger Franzose. Die Filmkamera nimmt ein weiteres Relikt des Grauens in den Fokus: „Eines der berühmtesten Riesenräder der Welt“, so der ehemalige Liquidator ist auch eine Ironie der Geschichte. Der Vergnügungspark der Totenstadt Prypjat sollte am 1. Mai 1986 in Betrieb gehen, es kam nie dazu. Bauruinen ringsum. Die Kamera fährt noch näher ran: hin zu den einfachen Hütten der Rückkehrer, die andernorts als Verseuchte stigmatisiert wurden, und heute illegal in der kontaminierten Zone leben. Es sind alte, gebrechliche Menschen, sie wohnen in einfachen Hütten ohne fliessend Wasser, sind angewiesen auf Gastgeschenke der Besucher wie Mehl, Kaffee, Kefir. „Ich glaube, dass der Tschernobyl-Tourismus Antrieb für eine neue Phase der Normalisierung nach dem Unfall sein wird“, hofft der Reiseorganisator Myrnyj.

 

Vor allem Verlierer
Die Absurdität diese Unfalltourismus verkörpert Serhij Chernov, der als Student das Schulhaus von Prypjat mit aufbaute. „In Tschernobyl arbeiten Menschen, die sich nicht mehr verwirklichen können“, meint er. Lange war er arbeitslos nach der Katastrophe, inzwischen arbeitet er als Touristenführer, und fährt alle zwei Wochen zu seiner schwerkranken Frau ins 300 km entfernte Sumy. Sie war Liquidatorin. „Der Tourismus hier sollte auf höherem Niveau stattfinden“, meint er und ärgert sich über Besucher, die Zigarrenschachteln und leere Flaschen hinterlassen. Doch wie lange noch werden die maroden Häuser halten, fragen die Kommentatoren. Serhij Myrnyj will die Sperrzone zum UNESCO-Welterbe erklären lassen und so das Image dekontaminieren. Der Wissenschaftler hat, anders als die meisten der Betroffenen, einen konstruktiven, wenn auch zweifelhaften Umgang mit der Katastrophe gefunden. Ob „dark tourism“ der richtige Weg ist, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, wie er hofft, lässt die Doku zu Recht offen. Die Motive jener Massentouristen, die seit der „Chernobyl“-Serie auf Netflix zum Unglück reisen, scheinen anderer Natur.

 

Manuela Ziegler

 

Link:

ARTE-Doku: Urlaub in der Sperrzone

 

Gelesen 5256 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 10 Juni 2020 16:13

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