Dunkle Bilanz für die Atomkraft

Der World Nuclear Industry Status Report 2022 zeigt die Risiken der Kernkraft auf. (Bild: thieury) Der World Nuclear Industry Status Report 2022 zeigt die Risiken der Kernkraft auf. (Bild: thieury)

 

Anfangs Oktober stellte die Heinrich Böll Stiftung den World Nuclear Industry Status Report 2022 vor. Experten sprachen über die Situation in Fukushima, die Stilllegung von Atomkraftwerken, eine neue Generation von Reaktoren, Atomkraft im Krieg und einen Vergleich mit erneuerbaren Energien.

 

«Die Kernenergie kann und wird nicht die Grundlage für unsere zukünftige Energieinfrastruktur sein», sagte Jan Philipp Albrecht, Präsident der Heinrich Böll Stiftung in seiner einleitenden Rede. Zum ersten Mal seit vier Jahrzehnten macht durch Atomkraft produzierter Strom mit 9.8 Prozent weniger als ein Zehntel der globalen Produktion aus. Die Kombination aus Solar und Wind hat aufgeholt und steht bei 10.2 Prozent erstmals über der Atomkraft. Diese lohne sich aus wirtschaftlicher Sicht immer weniger und beginne abzunehmen. Zudem sei sie auf eine kleine Anzahl von Ländern konzentriert. So stellen die Top 5 Staaten der Atomkraft – die USA, China, Frankreich, Russland und Südkorea – 71 Prozent der weltweit durch Kernspaltung produzierten Elektrizität her. Der ehemalige EU-Abgeordnete sprach auch die Risiken an, die uns immer bewusster werden. Dies seien nicht nur hohe und steigende Kosten, sondern auch Freiheit und Unabhängigkeit. Dabei vermerkt er, dass Russland im Vertrieb von Uran und der Technologie für nukleare Anlagen marktführend ist. Mit Bulgarien, der Tschechischen Republik, Finnland, Ungarn und der Slowakei sind fünf europäische Länder von russischen Brennelementen abhängig.

 

Daraufhin übernahm Mycle Schneider, der Koordinator des World Nuclear Industry Status Report 2022 (WNISR), das Wort. Im Jahr 2006 wurde ein Rekord an produziertem Atomstrom aufgestellt, nach Fukushima und während der Pandemie folgten Rückgänge. Mit 2653 Terrawattstunden pro Jahr liegt die Produktion im Jahr 2021 jedoch nur marginal unter der von vor 16 Jahren. Seit dem Jahr 2002 wurden weltweit 98 neue Kraftwerke in Betrieb gesetzt und 105 vom Netz genommen. Schneider erwähnt dabei, dass China mit 50 Inbetriebnahmen mehr als die Hälfte der neuen AKWs stellt und gleichzeitig kein einziges geschlossen habe. Global kamen letztes Jahr sechs neue dazu, während zehn abgeschaltet wurden. Stand Juli dieses Jahres sind insgesamt 411 Reaktoren in 33 Ländern aktiv. Vor 30 Jahren waren es noch 480.

 

Zwischen Ausbau und Stilllegung

Hauptakteure im Bau neuer Atomkraftwerke sind Russland und China. Dabei unterscheiden sich deren Strategien fundamental. Russland baut im eigenen Land gerade mal drei neue Reaktoren und 17 im Ausland. Ihre Nachbarn aus dem Osten erhöhen ihre Kapazität um 21 Reaktoren, während sie im Ausland nicht aktiv sind. Vier dieser Anlagen stammen aus Russland, das im Verkauf von Reaktoren dominiert. Zu erwähnen sei zudem, dass 83 Prozent der Atomkraftwerke von Atommächten konstruiert werden.

 

Alexander James Wimmers von der Technischen Universität in Berlin sprach über die Stilllegung von Atomkraftwerken. Von allen weltweit laufenden Reaktoren sind 97 zwischen 41 und 50 Jahre alt, acht sogar noch älter. «In Zukunft werden wir eine grössere Anzahl an Reaktoren haben, die abgeschaltet und stillgelegt werden müssen», sagt Wimmers. Das bedeutet, dass trotz aller Neubauten, die Zahl der Atomkraftwerke stagniert. Stilllegungen werden aber immer noch unterschätzt und weisen häufig unerwartete Verzögerungen auf. So ist die Kontaminierung oftmals stärker als angenommen. Aus diesem Grund dauern Stilllegungen oft länger als der Betrieb der Anlagen selbst.

 

Während die Atomkraft stagniert, erfahren erneuerbare Energien einen Boom. Im Jahr 2021 wurden weltweit etwa 360 Milliarden Franken in erneuerbare Energien investiert – 144 Milliarden in Wind und 197 Milliarden in Solaranlagen. Im Gegensatz dazu betragen die Investitionen in Atomkraft «nur» 24 Milliarden Franken. «Es wird günstiger, die bestehenden Anlagen zu schliessen und in Wind und Sonne zu investieren, als weiter mit Atomkraft zu produzieren», sagte Antony Froggat, Co-Hauptautor des WNISR. Tatsächlich steigen die Kosten für Atomstrom immer mehr, während besonders Erneuerbare nur noch einen Bruchteil ihres früheren Preises kosten. Mittlerweile kostet Atomstrom mehr als das Vierfache von Solar- und Windstrom. Interessant ist, dass China sowohl im Zubau von Atomkraft und erneuerbaren Energien an der Weltspitze steht.

 

Atomkraft stellt uns vor mehrere Herausforderungen

Ein Thema, das nicht fehlen durfte, ist der Krieg in der Ukraine und die Rolle der Atomkraft darin. «Hätte ich vor einem Jahr über dieses Thema gesprochen, wäre der Raum vermutlich leer gewesen», sagte Christoph Pistner vom Öko-Institut Darmstadt. Trotz internationaler Verträge, die es verbieten, wird die Anlage in Saporischschja beschossen. Dabei kann es aber schneller zu einer Kernschmelze kommen, als viele annehmen würden. Um die Zerfallswärme in Reaktoren und Abklingbecken abzukühlen und die Bildung von explosivem Wasserstoff zu verhindern, sollten Infrastruktur auf und ausserhalb der Anlagen, das Personal, Elektrizität und Technik stets einwandfrei funktionieren. Die sieben unverzichtbaren Säulen der nuklearen Sicherheit und der Gefahrenabwehr im Nuklearbereich, die von der internationalen Atomenergiebehörde IAEA aufgestellt wurden, wurden während des russischen Angriffskrieges allesamt gebrochen. Dazu gehören die physische Unversehrtheit der Anlagen, die Funktionsfähigkeit der Sicherheitssysteme, dass das Betriebspersonal nicht unter Druck gesetzt werden darf und seinen Pflichten nachkommen kann, eine gesicherte externe Stromversorgung der kerntechnischen Anlagen, ununterbrochene logistische Versorgungsketten zu und von den Standorten, wirksame Strahlenüberwachung und zuverlässige Kommunikation mit der Aufsichtsbehörde und anderen Stellen. Kein Atomkraftwerk auf der Welt ist für Kriegsumstände sicher genug.

 

Professor Tatsujiro Suzuki von der Universität Nagasaki sprach über zwei der Hauptprobleme, die zurzeit in Fukushima vorherrschen. Das Geröll und der Schutt können auf unabsehbare Zeit nicht weggeräumt werden. Zwei bisherige Versuche wurden verschoben. Zudem wird durch das Grundwasser, das in die Anlage sickert, immer mehr kontaminiertes Wasser angesammelt, das nun gefiltert und in den Pazifik geleitet werden soll. Fischer und Anrainerstaaten zeigen sich besorgt. Ein ähnliches Problem gibt es mit der kontaminierten Erde im Gebiet. Ein Teil kann bei geringer Belastung wiederverwendet werden. Man wisse aber nicht, wie mit dem Rest umzugehen sei. Trotz dieser Probleme schlug der japanische Premierminister diesen Juli erstmals den Bau neuer Kernkraftwerke vor.

 

Unter anderem wurden auch Small Modular Reactors, eine neue Generation kleiner AKWs angesprochen. Professor Ramana von der University of British Columbia zeigte sich wenig überzeugt davon. Der Bau von sogenannten SMR brauche länger als angenommen. Zudem kostet der produzierte Strom mehr als bei herkömmlichen Kraftwerken.

 

Nina Scheer von der SPD sprach über hemmende Faktoren in der Energietransformation, Kostenentwicklungen und darüber, dass in punkto Sicherheitsanforderungen in Zukunft keine Abstriche gemacht werden sollen – auch nicht in Engpasssituationen. Sie hinterfragte die Motive von Zulieferstaaten. Am Schluss der Präsentation kommentierte die Klimaschutz- und energiepolitische Sprecherin der SPD-Bundesfraktion den Entscheid des EU-Parlaments, Atomkraft und Gas als nachhaltig einzustufen. Der Begriff «Nachhaltigkeit» verliere an Wert. Sie selbst sieht den Entscheid als absoluten Tiefpunkt.

 

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  • Mit seinem Film „Katanga Business“ von 2009 vermittelt der belgische Regisseur Thierry Michel nicht nur einen Einblick in die gegenwärtige Situation der Rohstoffförderung in Katanga, sondern verdeutlicht auch die eigentlichen Aufgaben eines Dokumentarfilmers – Dokumentieren statt Kommentieren.

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Vor dem Hintergrund der aktuellen „Energiewende“-Debatten möchten wir einen kritischen Diskussionsbeitrag leisten für all jene, die mehr wissen wollen zum Thema Energie. Und wir möchten einen Beitrag leisten, die tiefen ideologischen Gräben zu überwinden, die Befürworter und Gegner trennen. Denn die Wahrheit wird bei diesem Thema sehr schnell relativ bzw. relativiert, man bewegt sich auf einem Feld, in dem sich Experten, Meinungsmacherinnern, Ideologen, Betroffene, Opfer, Lobbyisten, Politikerinnen und Weltenretter tummeln. Sie alle sollen zu Wort kommen, sie sollen von ihrer Wahrheit erzählen, der Wahrheit des Strahlenopfers ebenso wie jener des Kraftwerkbetreibers, des Befürworters und der Gegnerin.

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