Liawon Grischuk, Maler und Liquidator, Weissrussland

„Alle sind tot“

 

Der Maler Liawon Grischuk wurde nach dem Super-Gau von Tschernobyl als Reservist eingezogen und während rund eines Monats für Dekontaminierungsarbeiten eingesetzt. Zweimal war er für je zwei Minuten auf dem Dach des zerstörten Reaktors. Er ist der einzige seiner Einheit, der heute noch lebt.

„Es war ein heisser Sommertag. Doch aus diesem schwarzen Loch kam nur eine eisige Kälte. Und es war totenstill. Ich war zum zweiten Mal auf dem Dach des zerstörten Reaktors in Tschernobyl, auf dem ein grosses Loch klaffte. Uns war eingeschärft worden, auf keinen Fall nach unten zu blicken. Wir taten es trotzdem und blickten dem Tod ins Auge. Unser Auftrag war denkbar einfach. Mit einem Vorschlaghammer auf einen Graphitblock von der Grösse eines Schrankes einzuschlagen, das Bruchstück, kaum zigarettenschachtelgross, mit einer Schaufel aufzunehmen und in dieses schwarze Loch werfen. Zwei Minuten hatten wir. Über einen Lautsprecher drängte uns der kommandierende Offizier zur Eile. Er sass unten am Boden und beobachtete uns auf einem Monitor. Zwei Minuten pro Einsatz. Alleine der Aufstieg hatte drei Stunden gedauert. Das lag nicht nur am Gewicht der Bleiweste und der Bleischürze, die uns vor der Strahlung schützen sollte. Es lag auch am Chaos, die die Explosion hinterlassen hatte. Alles lag quer durcheinander. Es war eine regelrechte Kletterpartie von Stockwerk zu Stockwerk, über Schutt, eingefallene Mauern hinweg, manchmal zwängten wir uns durch ein enges Loch, manchmal mahnte uns eine Warntafel zu grosser Eile. Und oben empfing uns das Gebrüll aus dem scheppernden Lautsprecher. Zwei Minuten für ein kleines Stück radioaktiv strahlenden Graphits. Zwei Minuten, die unser aller Leben für immer veränderten. Zweimal schickten sie uns hinauf, die Bleiweste trugen wir nur beim ersten Mal, beim zweiten Mal waren sie unauffindbar, und so blieb es bei der Bleischürze. Beim ersten Mal hatte der Offizier mir noch ein Dosimeter mitgegeben, ich hängte es um den Hals und trug es unter der Weste. Danach nahm er es mir wieder ab, blickte kurz durch das Anzeigefenster und notierte die Dosis: 12 Röntgen*. Beim zweiten Mal waren auch keine Dosimeter mehr verfügbar. Nach meiner Rückkehr fragte ich nach der Dosis. Der Offizier meinte nur: 12 Röntgen. Es war offensichtlich, dass er stets dieselbe Dosis notierte, egal, was da oben wirklich geschehen sein mochte. Erst fast drei Jahrzehnte später erinnerte sich der damals kommandierende General im Fernsehen, wie er mit seinen Vorgesetzen um die Minuten gefeilscht hatte. Ihm sei klar gewesen, dass er seine Leute in den sicheren Tod geschickt hätte. So habe er verhandelt und schliesslich die zwei Minuten erreichen können, die er als gerade noch vertretbar erachtete. Er sollte sich täuschen. Von den 31 Mann meiner Brigade bin ich der letzte Überlebende, und das schon seit 2001. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich überhaupt der einzige unter jenen bin, die auf dem Dach eingesetzt worden waren, der noch lebt. Uns allen war nach dem Einsatz schlecht geworden, unsere Nasen bluteten. Uns wurde gesagt, das sei nur vorübergehend und nicht weiter schlimm. Man riet uns, Alkohol zu trinken. Das reduziere die Strahlung. Viele, auch ich, blieben dabei, und wurden zu Alkoholikern. Wir waren anfällig auf alle möglichen Krankheiten, konnten nicht mehr arbeiten, rauchten, tranken und fielen unseren Angehörigen zur Last. 1995 dämmerte es mir. Ich fand in einer evangelischen Kapelle zum Licht Gottes und zum Glauben. Das hat mich gerettet, ich hörte mit Trinken auf, hatte in meiner Frau eine grosse Stütze, schliesslich begann ich, zu malen. Ich male stets das Licht, das mich gerettet hat, es ist überall, auch auf den Friedhöfen. Es hat mich erlöst und befreit. Und es hat mir das Leben gerettet. Ich bin noch da, und ich werde bis zu meinem Tod nicht aufhören, Gott und sein Licht zu preisen.

*12 Röntgen entsprechen 120 Millisievert oder der 120-fachen, noch als zulässigen erachteten Jahresdosis.

Seit seiner Bekehrung 1995 malt Liawon Grischuk das Licht Gottes. Der Glauben habe ihm das Leben gerettet.

 

zum Weiterlesen:

Das Leiden der Liquidatoren

 

Mensch + Energie

Vor dem Hintergrund der aktuellen „Energiewende“-Debatten möchten wir einen kritischen Diskussionsbeitrag leisten für all jene, die mehr wissen wollen zum Thema Energie. Und wir möchten einen Beitrag leisten, die tiefen ideologischen Gräben zu überwinden, die Befürworter und Gegner trennen. Denn die Wahrheit wird bei diesem Thema sehr schnell relativ bzw. relativiert, man bewegt sich auf einem Feld, in dem sich Experten, Meinungsmacherinnern, Ideologen, Betroffene, Opfer, Lobbyisten, Politikerinnen und Weltenretter tummeln. Sie alle sollen zu Wort kommen, sie sollen von ihrer Wahrheit erzählen, der Wahrheit des Strahlenopfers ebenso wie jener des Kraftwerkbetreibers, des Befürworters und der Gegnerin.

Aus mensch-und-atom.org wird mensch-und-energie.org

 

header neumenschundatom2 

 

 

Eine Initiative des 

Logo neu2

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.