Timothy Mousseau, Biologe, USA

„Fauna und Flora in der Sperrzone macht die Strahlung enorm zu schaffen.“

Timothy Mousseau ist Biologe an der Universität South Carolina in den USA. Er erforscht die Folgen der Verstrahlung auf die Natur in der Sperrzone von Tschernobyl.

Waldkiefer in der Sperrzone, vermutlich durch genetische Mutation geschädigt.

„Die ersten kleineren Studien habe ich Ende der 1990er-Jahre in der Sperrzone gemacht. Die Ergebnisse waren eindeutig. Fauna und Flora macht die Strahlung enorm zu schaffen. Doch nichts davon fand sich im 2006 veröffentlichten Bericht der Umwelt-Expertenkommission der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO). Stattdessen ist dort von ‚blühenden Ökosystemen‘ die Rede. Die Sperrzone sei von der ukrainischen Regierung zum Wildnis-Habitat erklärt worden, und so sehe es dort auch aus. Ich war schockiert. Wie konnte es sein, dass eine Institution, die sich der wissenschaftlichen Seriosität verschrieben hat, eine solche Ignoranz an den Tag legte? Ich beschloss, zusammen mit Kollegen die Forschung zu intensivieren. Als ich ausserhalb der Sperrzone nach Fruchtfliegen suchte, bin ich kaum fündig geworden. Da dämmerte es mir. Nicht nur die Fruchtfliegen waren weg, es gab auch kaum mehr Früchte, kaum Bienen und Schmetterlinge. So begannen wir damit, sie zu zählen. Es waren viel weniger, als natürlicherweise zu erwarten war. Bienen und Schmetterlinge, aber auch viele Säugetiere, sind schon bei einer Jahresdosis von 50 Millisievert verschwunden. Doch schon bei deutlich niedrigerer Strahlung, die für Angestellte in Atomkraftwerken noch als zulässig erachtet wird, sind die Rückgänge hoch, und das bei allen Lebewesen. Und je tiefer wir in die Materie eintauchen, desto eindeutiger wird dieses Bild, sei es bei Pflanzen oder Tieren: Je höher die Strahlung, desto häufiger sind genetische Schäden, Missbildungen, verringerte Fruchtbarkeit, niedrigere Lebenserwartung, geringere Populationen und Artenvielfalt. Spinnen formen mit ihren Netzen nur noch bizarre Gebilde, Bäume wachsen zu pflanzlichen Monstern heran, das Laub im Wald verrottet nicht, weil es dort kaum mehr Lebewesen gibt, die dieses natürliche Recycling übernehmen. Viele Arten sind ganz verschwunden. Die Mutationen werden vererbt, und es sieht danach aus, dass sie sich nicht nur über die Generationen anhäufen, sondern auch in Populationen außerhalb der Sperrzone auftreten. Nicht alle Lebewesen leiden in gleichem Ausmaß. Einige erweisen sich als deutlich anpassungsfähiger, und es ist nicht auszuschliessen, dass sie sich allmählich durchsetzen werden. Es wäre ein vom Menschen verursachter Selektionsprozess. Und das könnte erst der Anfang gewesen sein. Denn strahlungsbedingte Mutationen entfalten ihre Wirkung noch über viele Generationen.
Das Bild einer Natur, die sich selber zu helfen weiss, bleibt dennoch hartnäckig. Es wird befördert durch den 2010 fertig gestellten Dokumentarfilm ‚Tschernobyl – die Natur kehrt zurück` des französischen Regisseurs Luc Riolon. Er hatte uns während mehrerer Sommer begleitet, um im Film schliesslich praktisch alles auszublenden, was seiner These widersprach. Die Aufnahmen von Wildtieren wie Wölfen oder Bären, die es in der Sperrzone wieder zuhauf geben sollte, wurden in Deutschland gedreht und ohne diese Angabe im Film verwendet und einer sehr umstrittenen, von der Nuklearindustrie mitfinanzierten, längst widerlegten Studie über eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit von Mäusen an die Strahlenbelastung sehr viel Platz eingeräumt. Ich gehe davon aus, dass Riolon Geld aus der Industrie erhalten hat. Wir konnten erreichen, dass der Film in Grossbritannien nicht mehr gezeigt werden darf. In deutschen Kanälen ist er regelmässig zu sehen. Derweil ist unsere Forschung ständig auf der Kippe, weil die Finanzierung jedes Jahr aufs Neue zur Gratwanderung wird.
Die Tiere in der Sperrzone trinken nicht. Sie nehmen keine Drogen. Sie werden auch nicht arbeitslos. Krank sind sie trotzdem, und es beginnt schon bei niedrigen Strahlungsdosen. Es gibt keinen Grund, warum Menschen weniger betroffen sein sollten. Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob ich noch nüchterner Wissenschaftler oder nicht schon Aktivist gegen das Vergessen und die Ignoranz bin.“

Zum Weiterlesen:

Das Leiden der Natur

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