Ortwin Renn, Umwelt- und Techniksoziologe, Deutschland
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- Geschrieben von Urs Fitze
«Es geht um die Akzeptanz»
Ortwin Renn ist Professor für Umwelt- und Techniksoziologie und Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung an der Universität Stuttgart. Von 2006 bis 2012 leitete er den Nachhaltigkeitsbeirat des Landes Baden-Württemberg und war Mitglied in der von Bundeskanzlerin Angela Merkel berufenen Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung.
»Atomkraftwerke der sogenannt dritten Generation sind sicherer als ihre Vorgänger, und man darf davon ausgehen, dass die Unfälle in Tschernobyl oder Fukushima mit solchen Meilern weit glimpflicher abgelaufen beziehungsweise gar nicht geschehen wären. Man kann hier durchaus von einem Lerneffekt sprechen. Es geht dabei nicht nur um bessere Überdruckventile oder stärkere Hüllen. Die modulare Bauweise der neuen Kraftwerkstypen verringert deren Komplexität. Entscheidungen, wie sie bei Störungen vom Bedienungspersonal zu fällen sind, werden damit einfacher. Das reduziert das Risiko, durch falsche Entscheidungen alles noch schlimmer zu machen. Die von Charles Perrow formulierte These, wonach komplexe technische Systeme quasi an sich selbst scheitern, ist deshalb revisionsbedürftig. Doch hier sprechen wir von der Technik.
Bei der Risikoabschätzung eines Atomkraftwerks geht es aber schon lange nicht mehr nur um die Einschätzung der Experten und deren Rat an Behörden und Gesellschaft. Es geht auch um die Frage der Akzeptanz eines Risikos. Als Individuen unterschätzen wir das Risiko, an einem Autounfall zu sterben, und überschätzen das Risiko, verstrahlt zu werden. Das ist überall auf der Welt etwa gleich. Ganz anders sieht es bei der Akzeptanz der Atomenergie aus. In Deutschland war nach Fukushima jede andere Option als der Ausstieg vom Tisch, während im benachbarten Frankreich niemand ernsthaft daran rüttelte. Das lässt sich gut mit den unterschiedlichen politischen Kulturen erklären. Im zentralistischen Frankreich, teilweise auch in Japan, ist das Vertrauen in die technischen Eliten groß, es gibt eine Art kollektiven Stolz gerade auf die Leistungen der Nuklearindustrie. Im föderalistischen Deutschland ist der Widerstand nach den ersten euphorischen Jahren gewachsen und nie mehr abgeebbt. Den Ausschlag für den Ausstieg gab eine politisch motivierte Neubeurteilung des Risikos. Statt auf theoretische Modelle, die die Wahrscheinlichkeit eines atomaren Unfalls in einen Bereich jenseits der menschlichen Vorstellungskraft rücken, stützte man sich auf die historische Erfahrung, wonach weltweit etwa alle 25 Jahre mit einem solchen Ereignis zu rechnen ist. Aus dieser Warte trifft es einen tatsächlich schon viel eher. Doch wenn wir nach China schauen, zeigt sich das Problem einer enormen Energienachfrage, die sich trotz starker Förderung erneuerbarer Energien nicht befriedigen lässt. Die Atomenergie scheint vor diesem Hintergrund unersetzlich zu sein, entsprechend groß ist die Akzeptanz.«
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