Naoto Kan, ehem. japanischer Premier

"Ziehen Sie mal in Europa einen Radius von 250 Kilometern"

Naoto Kan war Premierminister in Japan, als sich die Atomkatastrophe von Fukushima ereignete. Er erzählt von seinem Glauben an die Kernenergie, dem verhängnisvollen Unfall und seinen heutigen Einsatz gegen die Atomenergie.

Satellitenaufnahme des AKW Fukushima Daiichi nach dem Erdbeben und dem Tsunami vom 11. März 2011. (Bild: Digital Globe)

„Natürlich befasste ich mich zuerst mit den enormen Schäden und dem menschlichen Leid, das sich nach dem Erdbeben und dem Tsunami am 11. März 2011 ausbreitete. Tepco meldete, alles sei in Griff. Nach einer Stunde warnte Tepco in Fukushima Daiichi gebe es weder Kühlung noch Strom. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ich bin Physiker, kein Atomexperte, aber wegen Tschernobyl hatte ich eine Ahnung davon, was nun passieren könnte. Noch einen Tag später meldete Tepco, es sei noch genügend Kühlwasser vorhanden. Ein Irrtum, wie sich später herausstellte. Die Anzeige funktionierte nicht mehr. Als wir alle noch von einer schwierigen Situation ausgingen, fand die Kernschmelze schon statt. Am 12. 13. und 14. März kam es zu weitere Explosionen und Kernschmelzen. In vier Tagen wurden drei Reaktorblöcke zerstört, in Tschernobyl einer. Doch es gab noch weitere Reaktorblöcke, ein Kühlbecken mit zwei Dutzend Brennstäben und in der Nähe ein weiteres Kernkraftwerk. Wäre das Kühlbecken geborsten, andere Blöcke zusätzlich explodiert, wären andere Atomkraftwerke beschädigt worden – die Katastrophe hätte sich verzehn-, ja verhundertfacht. Ich liess sofort ein Worst-Case-Szenario ausarbeiten. Die Experten sagten mir, wir müssten dann die Menschen in einem Umkreis von 250 Kilometern sukzessive evakuieren. 50 Millionen Einwohner, darunter jene von Tokio hätten ihr Haus oder ihre Wohnung verlassen müssen. Es hätte 40 Prozent der Bevölkerung und ein Drittel der Fläche betroffen. Japan wäre nicht mehr das Land gewesen, das es vorher war. Haben Sie schon einmal einen solchen Radius in der Schweiz um ein Kernkraftwerk gezogen, oder in Deutschland oder Frankreich? Es wären ebenfalls Millionen von Menschen und mehrere Länder betroffen. Wir sind um Haaresbreite darum herumgekommen. Dank dem persönlichen und gefährlichen Einsatz von Tepco-Arbeitern, Feuerwehrleuten und Sicherheitsleuten, die ihr Leben riskiert haben und dank grossem Glück oder göttlichem Beistand, wie auch immer man das sehen will. Doch der Unfall dauert an. Das dürfen wir nicht vergessen. Noch heute muss Wasser zur Kühlung zugeführt werden, das ins Meer fliesst. Damals – und mit dem Wissen des Dramas von Tschernobyl, wo viele Menschen beim Kampf gegen die Katastrophe ihr Leben gelassen haben – musste ich gegen den Antrag von Tepco entscheiden, die Mitarbeiter fliehen zu lassen. Sie mussten durchhalten, denn sie kannten die Anlage. Was die Energieproduktion betrifft, so ist für mich in diesen Tagen eine Welt zusammengebrochen. Natürlich versicherten unsere Experten vorher, eine Katastrophe wie in Tschernobyl könnte in Japan nie passieren. Ich habe ihnen geglaubt und mich geirrt. Es gibt in Japan neun grosse Stromproduzenten, die das Land unter sich aufgeteilt haben. In Tokio verkaufte Tepco mit einer Monopolstellung den Strom. Sie bilden zusammen mit dem Atomexperten und Lobbyisten das sogenannte nukleare Dorf. Gemeinsam sind sie mächtig. Die Konzerne haben das Recht, auf die Gestehungskosten drei Prozent Gewinn zu addieren und das ist dann der Preis, den ein Kunde zu zahlen hat, wenn er Strom will. Sie bestimmen konkurrenzlos – das war ein gutes Geschäft. Erst seit April 2016 bekommen die Nutzer die Wahlfreiheit beim Strombezug. Der in sich geschlossene Kreis des nuklearen Dorfes ist intransparent. In Japan werden Fehler von Vorgesetzten nicht kritisiert und es wurden Fehler gemacht. Es gab beim beispielsweise beim Kernkraftwerk eine Sicherheitsanlage, die wurde aber nicht in Betrieb genommen. Niemand war da, der sie bedienen konnte. Vielleicht funktionierte sie schon lange nicht mehr. Im Nachhinein waren auch Unterlagen verschwunden oder mangelhaft, um niemanden zu belasten. Es ging im Laufe der 45 Betriebsjahre Know-How verloren oder wurde nicht richtig weitergegeben. Fukushima Daichii hätte auf einer Felsklippe von 35 Metern Höhe gebaut werden können. Dann hätte der Tsunami keine Zerstörung angerichtet. Stattdesen wurde der Fels beim Bau abgetragen und das Kraftwerk auf 10 Meter Höhe über Meer gebaut. Der amerikanische Erbauer General Motors hatte sich damals etwas überlegt, aber das Falsche. Er ging davon aus, ein tiefes im Schutz des Felsen liegendes Kraftwerk sei vor Tornados sicherer. Es gibt in Japan aber keine Tornados, sondern Tsunamis. Die kannten die Amerikaner wiederum nicht. Ich zähle dies alles auf, um die Kette menschlichen Versagens zu illustrieren. Wir dachten, so etwas könne nur in der Sowjetunion geschehen, nun hat es uns getroffen. Nach dem Unfall habe ich den Chef der Aufsichtsbehörde zu mir bestellt. Er sollte mich über die landesweite Gefahrenlage informieren. Doch er gestand mir, er verstehe von der Kernenergie gar nichts, er sei Volkswirtschafter. Man war sich so sicher, dass ein solcher Unfall nicht passieren kann, dass man sogar auf kompetentes Personal an der Spitze der Aufsichtsbehörde verzichtet hat. Ich weiss, dass viele Befürworter der Kernenergie sagen: Nun es ist in Russland und Japan geschehen, aber bei uns passiert es nicht. Man kann viele Gründe dafür anbringen, wieso eine solche Katastrophe nicht in der Schweiz, Deutschland oder Frankreich geschehen kann. Bis es halt doch passiert. Es sind immer Menschen, die hinter Kernkraftwerken stehen. Von 54 Kernkraftwerken in Japan sind im Moment zwei wieder in Betrieb. Das Volk hat die aktuelle Regierung gewählt und mich abgewählt wegen der Wirtschaftspolitik und nicht wegen der Kernenergie. Das Volk will die Atomenergie nicht mehr. Die Regierung schon. Aber auch die Richter haben dazugelernt. Früher übernahmen sie Expertenmeinungen, wenn es darum ging, eine Betriebsbewilligung auszustellen. Heute fragen sie kritisch nach und entscheiden sich manchmal auch gegen die Empfehlung und erteilen keine Genehmigung. Es gibt auch in Japan, die Möglichkeit für einen neuen Weg. Noch unter meiner Regierung führten wir die Einspeisevergütung für erneuerbare Energien ein. Bald haben wir 15 Kernkraftwerke durch erneuerbare Energien ersetzt. Zehn Prozent der Energie konnten wir ohne Einbussen einsparen. Leider ist aber der Verbrauch fossiler Energien angestiegen. Doch die Zukunft gehört der Solarenergie. Wenn wir sie nutzen, erreichen wir zwei Ziele: Wir bringen die Welt weder mit Kernenergie in Gefahr – noch verändern wir das Klima mit fossiler Energie. Und wenn Erdöl weniger begehrt ist, gibt es um seine Vorkommen weniger Kriege und wir tun etwas für den Frieden.“

Zum Weiterlesen:

»Das ist nicht unsere Sache«: Die atomare Katastrophe in Fukushima-Daiichi war die Folge unverantwortlichen Handelns der Betreiberfirma Tepco und der staatlichen Aufsichtsbehörden. Von Verantwortung ist auch jetzt nur auf Nachfrage die Rede.






 

 

 

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